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Glück und Heimweh

Teddy, der Inkommensurable (12 und Schluss): Wo Adorno, der Theoretiker der Negation, doch positiv wurde. Und welche Einsicht ihm verschlossen blieb, weil er zu früh starb. Vier Bausteine zu einer zeitgemäßen Lesart der Kritischen Theorie

VON MICHAEL RUTSCHKY

Sommer

„Rien faire comme une bête“, schrieb Adorno 1945, „auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ‚sein, sonst nichts, ohne alle Bestimmung und Erfüllung‘, könnte an Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung einzumünden.“

Dies ist eine der wenigen Stellen, an denen Adorno positiv wurde. Auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, das soll die Utopie einer postkapitalistischen – Adorno sagt: „emanzipierten“ – Gesellschaft beschreiben; Entfesselung der Produktivkräfte, der Mensch als Werktätiger, der restlos im Stoffwechsel mit der Natur steht, diese Wunschbilder – meinte Adorno – hängen doch viel zu eng mit der wirtschaftlichen Dynamik der Gegenwart zusammen, der sie entkommen wollen.

Es handelt sich um eine sommerliche Utopie, die Adorno da vorschwebte; im Winter, im mitteleuropäischen Winter ist schlecht auf dem Wasser liegen und der Himmel meist düster und trüb. Vielleicht schlug bei Adorno doch Kalifornien durch, wo er sich befand und das er gewöhnlich als kapitalistische Vorhölle erkannte. Der immerwährende Sonnenschein, die blühenden Sträucher und Bäume, der Pazifik, den Adorno als Schüler vermutlich unter dem Namen „der Stille Ozean“ kennen lernte. „Sur l’eau“ lautet der Titel von Adornos Prosastück; er zitiert ein sommerliches Mittelmeertagebuch des französischen Erzählers Guy de Maupassant und verknüpft ihn mit Hegel und der Dialektik, die den historisch-gesellschaftlichen Prozess durch seine Widersprüche hindurch unablässig in Bewegung halte – ein ziemliches Stück Arbeit, Adornos Arbeit, meine ich.

Unterdessen, knapp 60 Jahre später, wird man viele Anhänger von Adornos Utopie finden. Gerade im Sommer. Wer träumt noch von rastloser Tätigkeit des Menschengeschlechts, Entfesselung der Produktivkräfte und all that jazz? Jeder weiß, dass auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen der Bestimmung des Menschen viel näher kommt. Die Jogger, die durch die dunkelgrünen Parks der Stadt eilen, sicher, sie behaupten, sie wollen sich fit halten. Aber vor allem freuen sie sich auf das große Weizenbier, das sie hinterher zischen. Und was heißt schon fit? Angestellte und Beamte rennen hier entlang, und deren Arbeitsplatz fordert alles andere als körperliche Kraft und Gewandtheit.

So gelang dem kleinen Mann mit dem runden Kopf und den großen runden Augen, der sich 1945 kein Ende der Barbarei vorstellen konnte, wahrhaft ein Vorgriff auf die Wunschbilder der Zukunft.

Sex

Dass Adorno seinen Geschlechtsfreuden mit kindlichem Eifer nachging, die hausbackene Biografie von Stefan Müller-Doohm (Suhrkamp) lässt es in gewissem Ausmaß immerhin erahnen. Und anders als bei Gottfried Benn, wo die Weiberjagd einem Männlichkeitsideal entsprach, das er bis ins Alter festhielt, also der soldatischen Ethik zugehörte, ging es bei Adorno wirklich um Lust und Liebe – wie die entsprechende Anzeigenrubrik in einer der Berliner Stadtzeitungen überschrieben ist.

Sexualität im integralen Sinne von Freuds Psychoanalyse kommt aber auch in Adornos Schriften immer wieder systematisch vor. Er war ja ein Philosoph des Glücks, und seine Theorie handelt in aller Schwärze von nichts anderem als von dessen Abwesenheit, wie sie die gesellschaftliche Verfassung bedinge. Glück dachte er sich ohne Abstriche nach dem Vorbild des Geschlechtsverkehrs – hier folgte er neben Freud vor allem Karl Kraus und dem Jugendstil und den Bemühungen um Lebensreform, wie sie seit 1900 in seinen Kreisen angesagt waren. Das Leben, wie es in der repressiven Gesellschaft nicht lebt, im Geschlechtsverkehr – worin auch immer er bestehe – macht es die emphatische Erfahrung dessen, was Leben sein könnte; gewiss existiert die Dissertation, die solche Ideen Adornos als seine spezielle Version der Lebensphilosophie expliziert und Freud mit Nietzsche und Schopenhauer verbindet.

Jedenfalls ließ sich der Student, der ich einst war, dies alles gern gesagt sein. Er hatte sein eigenes Geschlechtsleben eben erst richtig begonnen, und dass jeder Nachmittag im Bett (statt Seminar) den höchsten Anforderungen der Kritischen Theorie entsprach: Au fein! Famos! Gewiss gehört Adorno, indem er das Triebleben theoretisch feierte, in die Vorgeschichte der sexuellen Revolution, die schließlich auch zu solchen Anzeigenseiten in Stadtillustrierten führte und versprengten Konservativen immer noch als Inbegriff von Verfall und Auflösung gilt. („Schauen Sie sich dagegen diesen Mohammed Atta an!“) Jedenfalls zeigte sich, dass die gegenwärtige Gesellschaft nicht auf sexueller Unterdrückung beruht.

Dass Adorno seinen eigenen Geschlechtsfreuden mit kindlichem Eifer nachging, reichten die Studenten untereinander gerne weiter. Es bezeugte wohl die Einheit von Theorie und Praxis, die der Novize am Meister bewundert (und die von den rebellischen Studenten an ihrem nichtrebellischen Professor so schmerzlich vermisst wurde). Auf einem Faschingsball widerfuhr dem Studenten, der ich einst war, die Ehre, dass ihm Adorno beim Tanzen auf den Fuß trat und sich dafür emphatisch entschuldigte. Er hielt, als Dschingis Khan verkleidet, ein besonders süßes Mädel umschlungen, die als seine gegenwärtige Favoritin galt.

Was die beiden im Bett miteinander erfreute, mochte sich der Student nun freilich überhaupt nicht ausmalen. Hier gilt das Bilderverbot, mit dem ursprünglich das Geschlechtsleben der Eltern belegt ist. „Deine Mutter fickt eigentlich nicht. Deine Mutter hat nur ein paar mal aus Versehen gefickt. Dein Vater liebt deine Mutter zu sehr, als dass er sie ficken würde.“ (Gilbert Sorrentino)

Immerhin brachte nach Adornos Tod der Gedanke Trost, dass nicht die aporetischen Konflikte mit seinen Studenten, sondern Liebeskummer ihm das Herz gebrochen habe. Die Favoritin, wurde erzählt, habe ihm den Laufpass gegeben, und das entwertete alles.

Buchmesse

„Beim Besuch einer Buchmesse ergriff mich eine sonderbare Beklemmung“, schrieb Adorno 1963. „Als ich suchte zu verstehen, was sie mir anmelden wollte, ward ich dessen inne, dass die Bücher nicht mehr aussehen wie Bücher.“

Die Bücher, meinte Adorno, fingen an, dramatisch Reklame für sich selbst zu machen; nicht bloß, dass man ein Buch als Ware kaufen kann, man erwarb zugleich einen Werbeträger (ein Wort, das Adorno noch fehlte). Das Buch aber, das mittels Umschlag und Typografie Reklame macht, bringt das Buch zum Verschwinden, das der Leser zu lesen wünscht.

Wer die Bücher von 1963 mit denen von 2003 vergleicht, gibt Adorno sofort recht. Die Bücher von 2003 sehen gegenüber denen von 1963 nicht mehr aus wie Bücher – manche bestehen, statt bloß äußerlich Werbeträger zu sein, durch und durch aus Reklame. Ausschließlich Schale, weder Fruchtfleisch noch Kern.

Aber halt. Adorno meinte doch, schon die Bücher von 1963 – die uns noch als Inbegriff von Büchern erscheinen, verglichen mit denen von 2003 –, schon die Bücher von 1963 sehen nicht mehr wie Bücher aus. Verglichen mit den Büchern von 1913, die noch wie Bücher aussahen und in denen der zehnjährige Adorno sich zum Entzücken seiner Eltern und Lehrpersonen so glänzend zurechtfand – ein Wunderkind.

Adorno litt an Heimweh. Dies mag sein stärkstes Leiden gewesen sein, stärker als das Leiden am Tauschprinzip und dem universalen Verblendungszusammenhang, den das Tauschprinzip stiftet.

Die Frankfurter Universität, die Adorno 1963 als einen ihrer Stars beschäftigte, war einfach nicht die Universität von 1923, in die der Zwanzigjährige erwartungsvoll hineinschaute. Dazwischen lagen das „Dritte Reich“ und das Exil in den Vereinigten Staaten, die Adorno als Inbegriff des beschädigten Lebens peinigten mit dem American Way of Life, weil er dort völlig fehl am Platze war. Er gehörte doch in eine deutsche Universität. In den USA schwoll Adornos Heimweh ins Unermessliche und wurde ein Hauptmotiv der Kritischen Theorie.

Normalerweise macht Heimweh einfach reaktionär. Früher war alles besser, früher schmeckte der Apfelsaft noch nach Apfelsaft. Was Adorno davon abhielt, einfach ein Reaktionär zu sein, war seine Intelligenz. Wahrhaft mit Heimweh erfüllte ihn, was aus den Büchern von 1913 oder 1923 für Bücher hätten hervorgehen können, wenn nicht … Wie aus Hegel Marx hervorging, das begeisterte Adorno. Aber was hätte aus Marx hervorgehen können, wenn nicht …

Hätte Adorno länger gelebt, seiner Intelligenz wäre das Heimweh als Zentralmotiv der Kritischen Theorie irgendwann aufgegangen, und er hätte schon zur Buchmesse 1973 bemerkt, dass sein unverkennbares Heimweh nach der Buchmesse von 1963 eine Selbsttäuschung der Kritischen Theorie anzeige, die weiterer Reflexion bedürfe.

Das Unwahre

Der Satz, den Adorno zu unseren Sprichwörtern beisteuerte, steht im ersten Teil der „Minima Moralia“, 1944 geschrieben, jenem Tag- und Nachtbuch, das manche für Adornos wichtigstes Werk halten.

Damals in den Sechzigerjahren, als wir jung waren und Adorno zu lesen begannen, schlug der Satz ohne Verzögerung ein. „Das Ganze ist das Unwahre“, der Satz sagte genau aus, was man das Lebensgefühl nennt, die umgreifende Stimmung, in der ich mich durch meine Tage bewege.

Was war los, Anfang der Sechziger? Kennedy wurde erschossen, und der Vietnamkrieg kochte weiter auf. Willy Brandt unterlag als Kanzlerkandidat der SPD Ludwig Erhardt von der CDU. Dass die SED in Berlin die Mauer baute und die Sowjetunion in Kuba Raketen zu stationieren versuchte, bedrohte das Ganze mit seiner atomaren Vernichtung, wie wir erkannten. Krieg und Barbarei, die in Adornos „Minima Moralia“ als lebendige Erfahrung eingingen, schienen unmittelbar präsent.

Es macht keine Mühe, in der Gegenwart Schrecken einzusammeln, Krieg und Barbarei, die sich so konfigurieren, dass sie Adornos Satz bekräftigen. Der junge S., der eben dem Drängen seines Vaters nachgab und das Abitur absolvierte, ist jetzt als Revolutionär unterwegs – so sagt er es selbst –, unter den frei schweifenden Kadern, die weltweit gegen die Globalisierung und ihre Folgen kämpfen. Keinen Augenblick zweifelt er daran, dass die Globalisierung ein unwahres Ganzes schafft, ja schon dies unwahre Ganze ist und er dies Ganze bekriegen muss. Adornos Satz entspricht so haargenau dem Lebensgefühl des jungen Mannes wie damals dem unseren.

Dass der Satz zunächst einmal die Philosophie kritisiert, ließen wir uns gesagt sein, die Philosophie Hegels, der als Maxime postulierte: Das Wahre ist das Ganze. Sie fordert vom Philosophen das System, dass er sich ordentlich durch alle Wissensgebiete und Wertsphären arbeite, um bei der Totalität anzukommen. Versuche nicht, sagt die Maxime, von irgendeiner Einzelansicht aus auf Wahrheit oder Unwahrheit der Totalität zu schließen; du musst erst durch alle Einzelperspektiven hindurch.

Hegel war der letzte Philosoph, der ein solches System riskierte – im Übrigen aber wirkt seine Maxime gründlich weiter in der modernen Welt. Wir sollen, um uns angemessen zu orientieren, zwar nicht alle Einzelansichten prüfen, wenigstens aber immer zwei, Plan A und Plan B. Das macht die moderne Welt so unentschieden flimmern; auch wer Plan B wählt, behält immer im Gedächtnis, dass Plan A möglich war. Was der modernen Welt wirklich zuwiderläuft, ist die Parteilichkeit eines religiösen oder ideologischen Fanatismus. Dann jedenfalls, wenn er über die private Lebensführung hinausgreift.

Adornos Satz richtet sich also gegen den Zwang eines philosophischen Systems. Und gegen die gesellschaftliche Totalität, die selber den Charakter eines unentrinnbaren Systems annahm, wie Adorno immer wieder nachzuweisen versuchte, unsystematisch, in Schriften zur Musik ebenso wie zum Sexualstrafrecht, zum Fernsehen oder zum Lehrerberuf. Nie sollten diese Schriften sich zu einem System zusammenschließen.

Der Satz, das Ganze ist das Unwahre, hat, philosophisch gesehen, einen entscheidenden Haken. Wer spricht? Von welcher Position aus kann ich das Ganze überblicken und als unwahr erkennen? Wieso schließt mich das Ganze nicht ein? Wenn es mich und meinesgleichen aber nicht einschließt, wie kann es dann das Ganze sein? Und wenn es mich einschließt, dann ist mir der Gesamtüberblick verstellt.

Das Ganze ist das Unwahre: Wer spricht? Soziologisch lässt sich die Frage leichter beantworten. Was Adorno – 1944 feierte er seinen 41. Geburtstag – mit dem zornigen jungen S. von heute, der die Globalisierung bekämpft, und den zornigen Studenten, die wir in den Sechzigern waren, verbindet, das ist die Position des Außenseiters, der sich vom Ganzen ausgeschlossen, jedenfalls nicht eingeschlossen fühlt. Gewiss brachte die Außenseiterposition dem exilierten Adorno weit mehr Schmerzen ein, als der rebellische junge S. sie zu gewärtigen hat. Er profitiert davon, dass die Außenseiterposition von der modernen Welt unterdessen eingeschlossen wird; alle Anstrengung unternehmen seine Eltern, damit der junge S., wenn er will, den Weg aus der Rebellion problemlos herausfindet – aber sie drängen ihn nicht, ja seine Mutter bewundert ihn für seinen Zorn.

Adorno starb zu früh. Ihm blieb die Einsicht verschlossen, dass seine Kritische Theorie in den Kanon der Bundesrepublik einging. Hätte er länger gelebt, uns wären seine aufregenden Reflexionen über die Integration der Kritischen Theorie zuteil geworden, wie sie ein Teil des Ganzen wurde.

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