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„Ihnen ein gutes neues Jahr“

Verhandlungsstrategie Berlusconis scheitert: Streit um Macht verhindert EU-Verfassung. Chirac will jetzt mit „Gruppen von Pionieren“ vorangehen

AUS BRÜSSEL SABINE HERRE

Es war kurz vor 13 Uhr am Samstag. Die Verhandlungen über die erste Verfassung Europas kamen seit Stunden nicht voran, doch Klaus Hänsch hatte seinen Humor nicht verloren. „Auf den Korridoren zwischen den Sitzungssälen findet ein europäisches Jogging statt“, meinte der SPD-Europaabgeordnete. Die Diplomaten der 25 EU-Staaten seien in ständiger Bewegung. Jeder rede mit jedem und alle müssten bei Silvio Berlusconi, dem amtierenden Ratspräsidenten, vorsprechen. „Der bewegt sich nicht“, sagte Hänsch, und dies war in diesem Fall nicht politisch gemeint. „Berlusconi empfängt.“

Nicht einmal eine Stunde später war der Verfassungsgipfel gescheitert. Das Beichtstuhl-Verfahren, wie im EU-Jargon die bilateralen Verhandlungen zwischen dem Ratspräsidenten und den einzelnen Regierungschefs heißen, hatte trotz intensiver Nutzung kein Ergebnis gebracht. „Die EU befindet sich von nun an in der Krise“, sagte Klaus Hänsch. Tatsächlich ist am Wochenende einer der wichtigsten Gipfel in der Geschichte der EU gescheitert. Doch er scheiterte, noch ehe er richtig begonnen hatte.

Normalerweise gibt es bei EU-Konferenzen ein Hin und Her zwischen Verhandlungen im Plenum und der bilateralen Suche nach Kompromissen. Bei diesem Berlusconi-Gipfel aber gab es keine Diskussion im Plenum. Und es gab auch keinen Erfolg versprechenden Kompromissvorschlag für die umstrittenste Frage der Abstimmungsregeln im Ministerrat. Was es dagegen gab, war eine Vielzahl von vagen Ideen, die Berlusconi bei seinen Zwiegesprächen mit den Regierungschefs entwickelte. Je mehr nationale Delegationen am Samstagnachmittag vor die Presse traten, umso mehr solch vermeintlicher Vermittlungsvorschläge wurden bekannt. Klar schien so nur eines: Berlusconi hatte keine Ahnung, wo der Ausweg aus dem Verfassungsstreit liegen könnte. Daher kam es gar nicht erst zur Debatte im Plenum.

Tatsächlich haben sich die Positionen der Verfassungsprotagonisten während des Gipfels praktisch nicht verändert. Auf der einen Seite stehen weiterhin Polen und Spanien, die den Nizza-Vertrag verteidigen, da er den beiden 40-Millionen-Einwohner-Staaten nahezu ebenso viel Gewicht zuspricht wie den doppelt so großen Mitgliedern Deutschland und Frankreich. Auf der anderen Seite finden sich Paris und Berlin, die eine stärkere Berücksichtigung der Einwohnerzahl fordern und daher den Abstimmungsvorschlag des Konvents umsetzen möchten. Diese so genannte doppelte Mehrheit sieht vor, dass für eine Ratsentscheidung 50 Prozent der EU-Mitglieder und 60 Prozent ihrer Bevölkerung notwendig sind.

Eine Vermittlungsidee der Italiener lautete, das notwendige Bevölkerungsquorum von 60 auf 70 Prozent heraufzusetzen, aber dadurch wären die Möglichkeiten der Staaten, unliebsame Beschlüsse zu blockieren, weiter gewachsen. Ein anderer Vorschlag wollte die Entscheidung über die doppelte Mehrheit ins Jahr 2008 oder 2009 verlegen. Ihre Einführung wäre dann aber erst 2014 möglich gewesen. Wer aber weiß schon, wie die Union in zehn Jahren aussehen wird? Vorschlag abgelehnt.

Bundeskanzler Gerhard Schröder wollte die Verantwortung für das Scheitern des Gipfels jedoch nicht Berlusconi anlasten. Schon vor dem Brüsseler Treffen hatte er sich lobend über die italienische EU-Präsidentschaft geäußert, nun sah er den Grund für den Misserfolg in einer falschen „Herangehensweise“ an europäische Fragen. Wenn man das nationale Interesse in den Vordergrund stelle und dahinter das europäische verschwinde, dann sei Europa nicht zu regieren.

Ganz anders beurteilte das naturgemäß Polens Ministerpräsident Leszek Miller. Er war einer der letzten Regierungschefs, der nach dem Scheitern des Gipfels vor die Presse trat. Und das lag nicht allein daran, dass Miller nach einem Hubschrauberunfall weiterhin unter ärztlicher Kontrolle stand und sich oft nur im Rollstuhl bewegen konnte. Die polnische Delegation war vom vorschnellen Ende der Brüsseler Beratungen sichtlich überrascht. „Wir hatten nicht genügend Zeit, zu verhandeln“, kritisierte Miller. Die Vermittlungsvorschläge der Italiener seien viel zu spät vorgelegt worden. Ansonsten jedoch zeigte sich der Regierungschef des künftigen EU-Mitglieds wie ein alter Profi. Und tat, als sei eigentlich gar nicht passiert. Miller: „Ein Teil der Regierungskonferenz ist zu Ende gegangen, im nächsten Jahr werden die Verhandlungen unter irischer Führung fortgesetzt. Ich wünsche Ihnen fröhliche Weihnachten und ein gutes neues Jahr.“

Besonders gut dürfte dieses Jahr für die Polen jedoch nicht werden. So ist Schröder der Ansicht, dass die Verfassungsberatungen nicht schon unter irischer, sondern erst während der niederländischen Ratspräsidentschaft beendet werden könnten. Also bis Ende 2004 dauern. Dies bedeutet aber, dass sie mit den ebenfalls anstehenden Verhandlungen über den nächsten EU-Haushalt zusammenfallen. Dann werden sich Berlin und Warschau erneut auf zwei unterschiedlichen Seiten der Barrikaden wiederfinden. Deutschland als Nettozahler und Polen als das Beitrittsland, das am meisten aus den Brüsseler Fördertöpfen erhält.

Und noch eine andere Drohung machte nach dem Gipfelkollaps die Runde. Wenn es nicht gelinge, im Europa der 25 zu Entscheidungen zu kommen, dann müsse sich eben eine „Gruppe von Pionieren“, von besonders integrationswilligen Staaten, bilden, kündigte Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac an. Und auch Schröder wollte die Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit einiger weniger EU-Mitglieder nicht ausschließen. Allerdings waren diese Kerneuropa-Drohungen deutlich leiser als noch vor dem Gipfel. Und sie werden von vielen Staaten auch nicht besonders ernst genommen. Kerneuropa, das sei wohl vor allem ein Thema der französischen Medien, meinte Polens Premier Miller. Ein hoher Vertreter der tschechischen Delegation lächelte bei dem Stichwort „Deutsch-Französische Union“ nur sanft. Als die Pariser Presse diese Idee publik machte, sei er in einem Dorf in der französischen Provinz gewesen: „Die Reaktionen können Sie sich vorstellen.“ Die Zukunft heiße nicht Kerneuropa, sondern harte Verhandlungen in Brüssel. So lange, bis ein Kompromiss gefunden ist.

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