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Mary die Weihnachtsgans (1)

Der kleine taz-Fortsetzungsroman zwischen den Jahren in fünf Folgen. Heute: Folge eins

von Tim Ingold

Mary die Weihnachtsgans lebte in Einklang mit der Natur. Glaubte sie zumindest. Woher sollte ein im Käfig aufgewachsenes Tier auch wissen, dass eine vergitterte Stahlbox in einer alten Scheune in Sachsen-Anhalt nicht die Natur war? In dieser Hinsicht unterschied sie sich nicht von ihren Mitgänsen. Alle meinten zwar, es sei ein wenig eng hier drinnen und, oh pardon, ich habe Ihnen auf die Füße geschissen, aber so war das nun mal und so sollte es wohl sein. Nur eine einzige Gans war anderer Meinung. Sie hieß Kassandra. Ich sach euch mal eins, Mädels, sagte Kassandra immer, da draußen ist die Freiheit. Wir sind hier im Knast, und zwar deshalb, weil wir alle zerhackt, gebraten, zerfleischt und gefressen werden sollen, und zwar in dieser Reihenfolge. Alle hielten Kassandra für eine totale Spinnerin und machten hinter ihrem Rücken komische Gesten oder schnitten Grimassen.

Nun kam es, dass eines frühen Morgens ein Lastwagen vorfuhr. Die Gitterboxen wurden geöffnet und ein paar ebenso schlecht gelaunte wie angezogene Ossis scheuchten alle Gänse in das Fahrzeug. Über den Köpfen der Gänse schwebten jede Menge Fragezeichen. Was sollte das denn jetzt werden, wenn es fertig war? Der Lastwagen bretterte durch die Dunkelheit und fuhr schließlich bei einer großen Fabrik auf den Hof. Prima, wir machen eine Brauereibesichtigung, rief jemand. Bloß Kassandra faselte irgendwas von Fließbändern, elektrischen Messern und einem riesigen Blutbad. Das kannte man ja schon. Die Laderampe senkte sich und das Gänserudel wurde in die Fabrik gescheucht. Aber als Mary die Laderampe herunterwatschelte, bekam sie von einer anderen Gans einen Stoß, fiel mit dem Kopf gegen einen Zaunpfahl und kullerte unter die Rampe, wo sie bewusstlos liegen blieb.

Sie wachte auf mit einem Schädel, als hätte sie eine Kiste Adelskronen Export geext. Obwohl es das gar nicht in Kisten zu kaufen gibt. Ihre Frisur hatte plötzlich den total angesagten Out-of-Bed-Look. Alle anderen Gänse waren weg. Neben der Rampe standen der Lastwagenfahrer und ein Fabrikarbeiter und rauchten. „Sag mal, erkundigte sich der Lastwagenfahrer, „was macht ihr hier eigentlich mit den ganzen Gänsen?“ – „Wir säbeln ihnen die Köpfe ab, lassen sie ausbluten, reißen ihnen die Federn und die Eingeweide raus und frieren sie ein.“ – „Du Schwein!“, schrie der Lastwagenfahrer, „dir bringe ich nie wieder Gänse vorbei! Und auch keine anderen Tiere!“ Er stürmte wutentbrannt in seinen LKW. „Höchstens mal ne Katze!“, schrie er noch aus dem Fenster, als er davonbrauste.

Mary lag einsam und benommen auf der kühlen Erde, über ihr funkelten feindlich die Sterne. Sie fühlte sich unendlich einsam. Kassandra hat also Recht gehabt, dachte sie. Was waren wir doch für dumme Gänse! Immer nur Shoppen, Solarium, Privatfernsehen gucken und am Wochenende in die Großraumdiskothek. Politik zum Beispiel war für mich immer ein Böhmisches Dorf mit sieben chinesischen Siegeln gewesen. Nun bin ich frei. Doch was soll ich mit meiner Freiheit anfangen? Alle meine Freundinnen sind Frikassee. Ach, ich wünschte, ich wäre auch tot!

Da erschien das Antlitz Gottes über ihr am Himmel. Gott sah aus wie Aretha Franklin. „Gans!“, donnerte Gottes mächtige Stimme, „was liegst du da auf der Erde herum?“ – „Wieso, ist das verboten?“, entgegnete Mary. „Also verboten vielleicht nicht.“ Gott verstummte. Eine unangenehme Gesprächspause enstand. „Kannst du mich bitte mit einem Blitz erschlagen?“, sagte Mary halbherzig. „Nein, die Blitze möchte ich mir für Thomas Gottschalk, DJ Ötzi und Jürgen Möllemann aufsparen“, antwortete Gott. „Aber Möllemann ist doch schon tot!“, sagte Mary. „Bei dem ist es nicht verkehrt, auf Nummer sicher zu gehen“, entgegnete Gott. „Ach komm, zieh Leine“, sagte Mary matt. „Na gut“, sagte Gott und verschwand. Mary hatte soeben die erste mystische Erfahrung ihres Lebens gemacht.

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