Die legendären 389

Fußballhistoriker Hardy Grüne widmet sich norddeutschen Opfern des modernen Fußballs und bleibt als Fan von Göttingen 05 dabei selbst auf der Strecke

von René Martens

Manche Krimischriftsteller weisen darauf hin, sie seien früher Ziegenzüchter, Teppichleger, oder Schlafwagenschaffner gewesen, denn ein bewegtes Leben ist wichtig für ihre Glaubwürdigkeit. Ganz so bunt ist die Biographie des Fußballautors Hardy Grüne nicht, aber ein paar ungewöhnliche Stationen hat er hinter sich. Der geborene Dortmunder hat Kaufmann gelernt, den zweiten Bildungsweg beschritten, Geographie und Politik studiert, und in seiner Vita stehen auch Aktivitäten für die Jugendorganisation der Deutschen Angestellten Gewerkschaft (DAG).

Der Kampf für die da unten und ein Faible für Geographie – das schlägt sich auch in seinem neuen Buch nieder. „Norddeutschland“ heißt es, ist 400 Seiten dick, und der Agon-Verlag eröffnet damit seine Reihe „Legendäre Fußballvereine“. Im Blickpunkt dieses Wälzers stehen jene Clubs, die mit mitleidigem Zungenschlag gern „die Kleinen“ genannt werden. „Legendär“ sind nach Grünes Definition im Norden 389 Vereine – auch der SV Curslack-Neuengamme, weil der vor 30 Jahren mal für zwei Spielzeiten die Nummer eins im Osten Hamburgs war.

Norddeutsche Fußballgeschichte hat Konjunktur: Der Fußballhistoriker Jens-Reimer Prüß („Immer erste Klasse. Die Geschichte des Hamburger SV“) Bernd Jankowski (kicker) und Harald Pistorius (Neue Osnabrücker Zeitung) legen im Frühjahr mit einem Band zum 100-jährigen Jubiläum des Norddeutschen Fußballverbandes (NFV) nach, und im Werkstatt-Verlag erscheint zur selben Zeit das „Fußball-Lexikon Hamburg“.

Grünes Sympathie gehört Klubs, die einst regionale Größen waren, aber ihre kulturelle und soziale Bedeutung vor Ort verloren haben, seitdem Bayern und Man U und Beckham und Ronaldo als Markenartikel allgegenwärtig sind. Die Globalisierung des Sports hat es mit sich gebracht, dass viele ländliche Regionen zu fußballerischem Niemandsland geworden sind und sich in größeren Städten Monokulturen entwickelt haben. Grüne erinnert daran, dass in Bremen Ende der 70er-Jahre der Bremer SV sich mit Hilfe der Firma Hosen-Meyer als Alternative zum SV Werder etablieren wollte. Solche Verhältnisse sind nicht wieder herstellbar, es sei denn, es kommt ein guter Onkel und lässt lange viel Geld regnen.

Der Fußballhistoriker Grüne widmet sich darüber hinaus ausgiebig jenen Vereinen, deren Namen durchaus bundesweit ein Begriff waren, die jedoch bei der Durchkapitalisierung des Fußballs auf der Strecke geblieben sind (wozu teilweise gewiss auch Schurken oder Dilettanten in den Führungsetagen beigetragen haben). Eines dieser „Opfer des modernen Fußballs“ ist der VfB Oldenburg. Anfang der 90er-Jahre, als ein gewisser Rudi Assauer dort Manager war, noch mit dem FC St. Pauli um Spitzenplätze in der 2. Liga ringend, ist der Traditionsclub heute fünftklassig: In der Tabelle der Niedersachsenliga West hat er derzeit sogar den SV Ramlingen-Ehlershausen vor sich.

Der Autor ist mittelbar selbst ein Opfer. Sein Verein, Göttingen 05 verschwand 2003 nach einem zähen Insolvenzverfahren von der Bildfläche, weshalb er derzeit die „regelmäßigen Stadionbesuche“ bitterlich vermisst. „Als Fußballstadt sei Göttingen tot“, sagt Grüne, trotzdem wird er in der kommenden Saison mit dabei sein, wenn der RSV Göttingen 05 als Nachfolgeklub des ehemaligen Zweitbundesligisten, in der Bezirksklasse antritt.

Die Recherche für „Norddeutschland“ erwies sich als mühsam, weil die meisten Vereine mit potenziellem Archivmaterial ungefähr so liebevoll umgegangen sind wie mit benutzten Papiertaschentüchern. In vielen Klubchroniken steht „so gut wie nichts drin“ oder gar Widersprüchliches, die Internet-Seiten sind meistens geschichtslos. Umso wichtiger waren Zeitzeugen, die freilich ab einem bestimmten Alter zu „einer verzerrten Sichtweise der Geschichte“ tendierten. Manchmal sei ihm „kaum etwas anderes übrig geblieben, als kicker für kicker durchzugucken“. Grüne, der in einem niedersächischen Mittelgebirgsdorf nahe der Grenze zu Thüringen lebt, hat Sportzeitschriften aus den letzten 50 Jahren zu Hause archiviert.

Was bei der Durchforstung alter Jahrgänge herauskomme, sei natürlich „nur ein kleiner Ausschnitt“. Wenn es gelte, die „große Rolle“ festzuhalten, die, beispielsweise, der Heider SV gespielt habe, sei „das Kulturgeschichtliche“ wichtiger. Heide (spielte 1956/57 und 1960/61 in der Oberliga, der vor der Einführung der Bundesliga höchsten Klasse) darf für sich in Anspruch nehmen, der einzige schleswig-holsteinische Klub zu sein, der in den letzten 74 Jahren einen Nationalspieler abstellen konnte – ein Mann namens Willi Gerdau, der 1957 einmal das Adlertrikot tragen durfte – und Anfang der 70er-Jahre noch einen Zuschauerschnitt von 4.000 erreichte.

Dass die Devise „Support your local football team“ in Heide, Itzehoe und anderswo heute nur noch Minderheiten beherzigen, ist nicht allein auf die Entwicklung des Fernsehens zurückzuführen. „In den 80er-Jahren haben sich die Vereine nicht ums Publikum gekümmert, keine Nachwuchspflege betrieben,“ sagt Grüne. In Hamburg, so der Ex-Gewerkschafter, gebe es ja wenigstens „Oasen, da lebt der Amateurfußball noch“. Altona 93, Bergedorf 85 oder BU ziehen mehr Fans an als vergleichbare Klubs in andere Großstädten.

Eine Frage drängt sich noch auf: Herr Grüne, waren Sie auch mal Anhänger eines großen Vereins? Da muss er nicht lange überlegen: „Göttingen 05 war ein großer Verein.“

Hardy Grüne: „Legendäre Fußballvereine: Norddeutschland“, Agon, Kassel 2004, 392 Seiten, 25 Euro