: „Kuba kann von Europa lernen“
INTERVIEW KNUT HENKEL
taz: Señor Rivero, Sie wurden am 30. November nach 20 Monaten Haft freigelassen. Warum?
Raúl Rivero: Sicher die Erkrankung vieler Häftlinge aus der „Gruppe der 75“. Und dann die internationale Reaktion nach deren Verhaftung und Verurteilung. Vor allem in Europa haben Journalisten, Schriftsteller, Künstler und Politiker dagegen protestiert und Druck ausgeübt. Damit hatte die kubanische Regierung wohl nicht gerechnet.
Denken Sie, dass noch weitere Häftlinge aus der „Gruppe der 75“ freigelassen werden?
Ich habe den Eindruck, dass alle freikommen werden. Kubas Regierung wird nach Lösungen suchen, um auch die jüngeren Häftlinge ohne Gesichtsverlust freizulassen.
Wie beurteilen Sie die Politik Spaniens, dessen Regierung sich besonders für Ihre Freilassung eingesetzt hat?
Ich denke, die Haltung Spaniens hat meine Freilassung erleichtert, vielleicht auch ermöglicht. Noch unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten José María Aznar setzte Madrid auf Sanktionen und plädierte auch innerhalb der EU für eine harte Haltung gegenüber Kuba. Die neue Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero hingegen hat den Dialog mit der kubanischen Seite wieder aufgenommen. Die harte Linie Aznars hat das aber erleichtert.
Wie waren Ihre Haftbedingungen?
Während der ersten elf Monate sehr schlecht: Ich war total isoliert und in einer sechs Quadratmeter großen, verdreckten und dunklen Einzelzelle eingesperrt. Ein Loch im Boden diente als Toilette, und 15 Minuten am Tag gab es Wasser aus dem Hahn. Nur eine halbe Stunde am Tag wurden wir in den Hof geführt. Im Winter war es bitterkalt und im Sommer brütend heiß. Auch das Ungeziefer, Ratten, Frösche, Moskitos und Spinnen, machte uns zu schaffen. Ich bekam gesundheitliche Probleme. Diese Monate waren die schlimmsten der Haftzeit. Mithäftlinge bekam ich nur durch Zufall zu sehen. Über Klopfzeichen hatten wir manchmal Kontakt. Insgesamt saßen acht politische Häftlinge in der Haftanstalt Canaleta nahe der Provinzstadt Ciego de Avila ein. Zwischen deren Zellen lagen immer drei oder vier andere, damit sie keinen Kontakt zueinander aufnehmen konnten.
Was haben Sie den ganzen Tag gemacht? Durften Sie Bücher lesen?
Ja, und ich durfte auch schreiben. Meine Frau brachte mir Papier und Stifte. Ich habe Gedichte geschrieben, ein Band davon wird demnächst in Spanien erscheinen.
Laut den kubanischen Untersuchungsbehörden haben Sie für die USA gearbeitet, wurden dafür bezahlt und deswegen zu der zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt. Wie denken Sie darüber?
Für die kubanische Regierung sind alle, die ihr nicht applaudieren, gegen sie. Sie werden nahezu automatisch als Agenten der CIA oder als Handlanger der US-Regierung angesehen. Ich bin Journalist und schreibe seit Jahren für internationale Zeitungen. Ich habe nie Geld von irgendeiner Regierung akzeptiert. Ich bin hier geboren, stamme aus einer patriotischen Familie und liebe mein Land. Ich bin davon überzeugt, dass wir Kubaner unsere Probleme selbst lösen müssen. Das ist nicht einfach, denn wir leben in einem System der Ausgrenzung und Diffamierung. Aber ich bin, im Gegensatz zu anderen, ohne Hass aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich kann vieles verstehen, weil ich weiß, wie das System in Kuba funktioniert und wie es die Angst schürt. Ich will eine konstruktive Position einnehmen, und irgendwann werden wir uns auch von diesem großen Schmerz befreien.
Sehen Sie Optionen dafür? Was halten Sie beispielsweise von der Initiative des „Proyecto Varela“, ein Referendum über die politische Zukunft Kubas durchzuführen?
Die Idee, die hinter dem „Proyecto Varela“ steht, ist exzellent. Die Oppositionsgruppen in Kuba müssen sehr kreativ sein, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Die kubanische Regierung führt immer an, dass die Oppositionsgruppen winzig, zerstritten und kaum wahrnehmbar seien. Aber das „Proyecto Varela“ hat es geschafft, die zehntausend Unterschriften, die laut Verfassung nötig sind, um ein Referendum in Kuba durchzuführen, zusammenzubringen.
Es kursieren Gerüchte, dass Sie nach Madrid ins Exil gehen werden. Wo wollen Sie künftig leben?
Ich möchte in meinem Land ungestört leben und arbeiten. Ich bin aufgrund meines Gesundheitszustandes aus dem Gefängnis entlassen und nicht begnadigt worden, habe aber keine Auflagen bekommen. Man hat mir gesagt, ich könne mein normales Leben wieder aufnehmen. Aber was heißt das genau? Deshalb bin ich gespannt, was passieren würde, wenn ich die Erlaubnis zur Ausreise nach Spanien beantrage. Ich möchte gerne nach Paris reisen, um den Unesco-Journalistenpreis „Guillermo Cano“ entgegenzunehmen. Zudem habe ich eine Einladung des Bürgermeisters von Granada in Spanien. Die Stadt bietet mir ein auf ein Jahr befristetes Stipendium an, um dort in Ruhe zu arbeiten.
Haben Sie sich schon entschieden?
Nein. Voraussetzung für meine Ausreise ist, dass ich mit meiner Familie reisen und zurückkehren kann. Für mich ist nur eines klar: Ich werde meine Arbeit wieder aufnehmen. Ich werde wieder professionell, ehrlich und so objektiv wie möglich aus Kuba berichten. Doch ob das möglich ist, hängt nicht allein von mir ab.
Welche Bedeutung hatte die Nachrichtenagentur „Cuba Press“ für Sie persönlich?
„Cuba Press“ war eine Illusion, aus der Realität wurde. Wir haben es geschafft, unter den schwierigen kubanischen Bedingungen eine professionelle Nachrichtenagentur aufzubauen. Unser Ziel war es, Qualitätsjournalismus zu machen. Am Ende waren wir 32 engagierte Journalisten, die nahezu alle Bereiche abdeckten und über alles berichteten, was im Land passierte. Derzeit arbeiten noch drei oder vier Kollegen unter dem Banner von „Cuba Press“. Viele andere sind ins Ausland gegangen, wie Tania Quintero, eine der besten Journalistinnen Kubas. Für mich war es eine Ehre, mit diesen Kollegen zu arbeiten.
Denken Sie über die Wiederbelebung von „Cuba Press“ nach?
Nein, nicht ernsthaft. Das Leben ändert sich. Ich bin nun fast sechzig und könnte höchstens als Berater fungieren, aber nicht mehr in vorderster Linie. Ich werde mich stärker um meine eigene Arbeit kümmern: für die ein oder andere ausländische Zeitung schreiben und mir mehr Zeit für meine Gedichte und für Romane nehmen. Bei der Agentur lastete viel Verantwortung auf meinen Schultern, denn das Schicksal der Mitarbeiter hing von meiner Arbeit beim Redigieren und Verifizieren der Texte ab. Die Kraft dafür habe ich nicht mehr.
Die kubanische Gesellschaft hat sich in den letzten fünfzehn Jahren sehr verändert. Wie beurteilen Sie diesen Wandel?
Die ökonomischen Probleme und die materiellen Nöte der Bevölkerung lassen sich durch Investitionen lösen, der moralische Verfall allerdings nicht. Es wird dauern, bis sich die Wunden schließen, der Hass, die Zerrissenheit vieler Familien, das Misstrauen sich legt. Viele Kubaner haben Konzessionen gemacht, der Opportunismus ist weit verbreitet und die eigene Meinung wird nur im engsten Kreis und manchmal nicht einmal da kundgetan. Das ethisch-moralische Wertesystem ist pervertiert worden, und das ist meiner Meinung nach das Schlimmste am heutigen Kuba.
Noch immer versuchen viele Kubaner, in die USA zu fliehen.
Das ist eine blinde Begeisterung für die US-amerikanische Gesellschaft. Die Kubaner haben keine Ahnung, wie das Leben dort ist, trotz abertausender Telefongespräche, die zwischen den USA und Kuba täglich geführt werden. Die permanenten propagandistischen Angriffe der kubanischen Medien haben den Blick auf die Realität verstellt, und daran hat der zunehmende Fernsehempfang genauso wie das Internet, zu dem sich immer mehr Kubaner heimlich Zutritt verschaffen, nichts geändert. Als ich Kind war, hätte kein Kubaner Kopftücher, Shorts oder andere Kleidungsstücke im Design der amerikanischen Flagge angezogen, heute wird so etwas getragen. Ausländer werden in Kuba wie Elvis oder wie Außerirdische hofiert – für das eigene Selbstwertgefühl ist das nicht gut.
Wie sieht denn die kubanische Zukunft aus Ihrer Sicht aus?
Ich denke, dass es, wenn auch in sehr kleinen Schritten, eine Modernisierung der Gesellschaft geben wird, die einen Wandel nach sich zieht. Dieser Prozess hat bereits begonnen: Meine Freilassung und die anderer Mitglieder der „Gruppe der 75“ ist dafür ein Beispiel. Ein neues Phänomen sind die Demonstrationen der „Damas de Blanco“. [Die Frauen der Inhaftierten gingen, ganz in Weiß gekleidet, für deren Freilassung regelmäßig auf die Straße, d. Red]. Früher haben sich die Angehörigen von politischen Gefangenen immer ruhig verhalten, um deren Situation nicht zu erschweren. Die „Damas de Blanco“ hingegen sorgten kontinuierlich für Aufmerksamkeit – sie ließen sich nicht einschüchtern. Ein Beispiel dafür, dass der Druck aus der Gesellschaft für Veränderungen zunimmt. Man wird jedoch Geduld und Durchhaltevermögen haben müssen, um in kleinen Schritten zu Veränderungen zu kommen.
Wozu sollen die führen?
Am Ende sollte eine plurale Gesellschaft stehen, in der man die unterschiedlichen Ideen und Meinungen toleriert. Ich bin überzeugt, das alle Kubaner das Recht auf eine eigene Meinung haben und das Recht, für sie einzutreten genauso wie das Land zu verlassen und auch wieder zurückzukehren.
Welche Rolle könnte die Europäische Union in einem derartigen Prozess des graduellen Wechsels spielen?
Die EU hat schon eine wichtige Rolle gespielt, weil sie den Protest gegen die Verurteilung der 75 aufrecht erhalten hat. Europa hat vielfältige Erfahrungen mit dem gesellschaftlichen Umbau, und wir Kubaner können von dem Pluralismus dort viel lernen: wie der Wahlkampf und Regierungswechsel funktionieren. Natürlich gibt es Polemik, Diskussionen, Auseinandersetzungen, aber grundsätzlich auch Raum für unterschiedliche Meinungen. Europa könnte eine didaktische Rolle spielen – als Gesellschaft, die ihre eigene Kultur, ihre Sprache und Identität verteidigt und nach echten demokratischen Regeln funktioniert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen