: Das entgrenzte Mitgefühl
Zurück zu Rousseau? Im Berliner Literaturhaus stellte Henning Ritter seinen Essay „Versuch über das Mitleid“ vor. Seine Kritik des „verlogenen“ Universalismus unserer Tage ist auch eine konservative Globalisierungskritik der Moral
Als moralischer Fundamentalist hat Jean-Jacques Rousseau in der Ideengeschichte eine berüchtigte Karriere gemacht. Doch ein rigoroser Schurke wie er hat heute nur noch wenige Freunde. Wer in der späten Bundesrepublik beweisen wollte, dass er den Frieden mit seiner Zeit gemacht und die Entfremdung als eine zivilisatorische Leistung anerkannt hatte, der schimpfte gerne auf „vulgäre Rousseauisten“. Solche Schimpfkanonaden waren indes nicht selten selbst ziemlich vulgäre Lektüren.
„Zurück zu Rousseau“, rät uns seit den Siebzigern dagegen der FAZ-Redakteur Henning Ritter. Ganz unerwartet ist sein moralisches Traktat „Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid“ durch die Flutkatastrophe in Südostasien zu einem Stichwortgeber der Stunde geworden.
Auch in der Wissenschaft hat das scheinbar so untheoretische Thema „Mitleid“ neue Aufmerksamkeit bekommen. Drei Tage wurde an der Freien Universität über „Ethik und Ästhetik des Mitleids“ getagt, in diesem Rahmen stellte Ritter im Berliner Literaturhaus sein Buch vor.
Der Andrang war groß, und allerlei letzte Geistesritter der bundesrepublikanischen Tafelrunde wie Nike Wagner oder Wolf Lepenies erspähte man im Publikum.
Auch ein linkes Faktotum mit zotteligem Rauschebart feuerte das bürgerliche Gespräch mit „Henning“-Rufen an und berief sich auf gemeinsame „Taubes-Vorlesungen“. Mitleid ist für Ritter eine konkrete Tugend, und so redete er – „Wir kennen uns schon lange“ – auch dem etwas wirren Kommilitonen aus alten FU-Zeiten gut zu.
Wie sein Held Rousseau hat auch Henning Ritter sich zurückgezogen – nur hat er sich nicht in die Wälder geschlagen, sondern noch einmal das große moralische Geistergespräch des 18. Jahrhunderts gesucht. Was Ritter in seinem Buch an Anekdoten und Parabeln anschaulich inszeniert, ist ein Streit unter enzyklopädischen Freunden.
Auf der einen Seite steht der Menschheitsapostel Diderot, auf der anderen Seite der Skeptiker Rousseau, der von der „grenzenlosen Ausdehnung“ der Moral, der Diderot seine Stimme leiht, nichts Gutes erwartet. Je mehr sich das Mitleid entgrenze, umso mehr nimmt für Rousseau der „Verpflichtungsgrad“ der Moral ab: Schon den Mord unter seinem Fenster nehme der in seinen Ideen verfangene „Philosoph“ für Rousseau nicht mehr wahr.
Wie jedes Gefühl ist Mitleid eine „unzuverlässige“ Größe. Zu nahe lagere es am Selbstmitleid, als dass sich daraus ein praktischer Nutzen ziehen lasse.
Hat Ritter ein „Buch für Liebhaber“ geschrieben, wie der Bestseller Frank Schirrmacher das Buch seines Kollegen auf einer FAZ-Weihnachtsbücherliste vergiftet anpries?
Ohne Frage hat Ritter sein Lob des moralisch Konkreten recht allgemein geschrieben. Ganz mitleidlos konkret möchte man den Autor fragen: Wer überdehnt denn heute die Moral? Wo sitzen Diderots politische Neffen?
Man sollte sich von dem verspielten, bildungsreichen Ton seines Buchs aber nicht täuschen lassen. Ritter lässt seine politischen Sympathien immer wieder aufblitzen. „Eigentlich ist das Buch“ – so Ritter im Literaturhaus – „eine Reaktion auf den 11. September.“
Vielleicht ist das Mitleid als „Stimmungsgefühl“ politisch nicht ausdeutbar – Ritters Buch über das Mitleid ist es ohne Frage: Man kann aus ihm viele gute konservative Gründe für eine konservative Globalisierungskritik der Moral gewinnen.
Henning Ritter, der Autor selbst, ist in einem Leitartikel in der FAZ zuletzt selbst deutlicher geworden. „Die globale Anteilnahme der Katastrophe hatte ihre Zeit, aber es dauerte nicht lange, bis die amerikanische Politik die humanitären Gefühle in patriotische Aufwallungen umlenkte, die dazu führten, einen Krieg zu billigen.“
Mehr als ein weiterer langer Aufruf zur globalen Spendenfreude ist Ritters Essay eine Kritik des „verlogenen“ Universalismus unserer Tage.
STEPHAN SCHLAK
Henning Ritter: „Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid“. C. H. Beck Verlag, München 2004, 224 S., 19,90 €
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