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Kulturkampf im Vorwahlkampf

Mit „einer Schule für alle“ möchten die Landesgrünen in die Wahlen gehen. Doch an der Parteibasis ist die moderne Einheitsschule höchst umstritten

„Jeder Vierte wird nach der Sekundarstufe I zum Bildungsverlierer“

■ Wir brauchen keine Schulstrukturdebatte

VON ROGER PELTZER*

Vor elf Jahren habe ich mich als Kommunalpolitiker für die neue Gesamtschule eingesetzt. Bislang haben dort drei Jahrgänge Abitur gemacht. Nur wenige schaffen ein Studium, andere sind überfordert. Auch landesweit erreichen die meisten Gesamtschulen in NRW keine guten Leistungsergebnisse – das Experiment Gesamtschule war ein Fehlschlag [...] Im Durchschnitt hinken Gesamtschüler hinter ihren Alterskameraden anderer Schulformen ein bis zwei Jahre hinterher. Sie zeigen ein schlechteres Sozialverhalten und geringeres Selbstwertgefühl.

Nun war die NRW-Gesamtschule mit Betonklötzen und übergroßen Schülerzahlen ein Produkt sozialdemokratischer Politik. Die Grünen haben sich schwer getan, eindeutig für Einheitsschulmodelle zu werben. Doch PISA hat dies geändert. Jetzt soll die „gemeinsame Schule für alle Kinder“ gemäß dem Entwurf des grünen Landtagswahlprogramms die anzustrebende Perspektive werden.

Vor dem Programmparteitag [Ende Februar in Köln] darf gefragt werden, ob eine solche programmatische Festlegung klug ist. Sollte sie ernst gemeint sein, ist der Kulturkampf vorprogrammiert. Und ob eine rot-grüne Landesregierung ein von der CDU auf den Weg gebrachtes Volksbegehren durchsteht, ist zweifelhaft.

Die Frage nach dem Sinn der Schulstrukturdebatte stellt sich aber auch, weil die PISA-Studien eben nicht den Beweis der Überlegenheit von eingliedrigen Schulsystemen liefern. Wie ist es sonst erklärlich, dass sich unter den besten zehn mit den Niederlanden und der Schweiz Länder mit gegliederten Schulsystemen finden, während es unter den hinter Deutschland platzierten Ländern auch Einheitsschulsysteme gibt – so in Italien, Norwegen, Irland oder Spanien. Berücksichtigt man die Anteile von Migrantenkindern, überholen die Niederlande Finnland, und Baden-Württemberg und Bayern rücken in die Spitzengruppe auf. Leistungsfähige Schulen sind also nicht in erster Linie das Ergebnis von abstrakten Schulstrukturen. Die Reduzierung der PISA-Diskussion auf die Schulstrukturfrage steht einer raschen durchgreifenden Verbesserung des Schulsystems in NRW eher im Wege.

Dabei hat die rot-grüne Landesregierung bildungspolitisch einiges auf den Weg gebracht: So wird deutlicher nach der Leistungsfähigkeit der einzelnen Schulen gefragt. Die selbstständige Schule ist auf den Weg gebracht. [Es] werden Möglichkeiten geschaffen, Kinder den ganzen Tag in der Schule zu lassen. Wo man hin hört, berichten Grundschullehrer, dass die Förderkurse für Vorschulkinder die Chancen schwächerer Erstklässler verbessern. Und mit der flexiblen Eingangstufe in der Grundschule hat sich die Landesregierung eine regelrechte Revolution vorgenommen. Da all diese Reformen mit geringen Finanzmitteln auf den Weg gebracht werden (müssen), steht das Gesamtkunstwerk aber noch auf wackeligen Füßen. Deshalb sind jetzt Ausdauer und Nachbesserungen wichtiger als ein neuer Kulturkampf.

Nach wie vor ist die Ausbildung deutscher Kindergärtnerinnen unzureichend. Aufgrund der Finanzlage wird das nicht schnell zu ändern sein, doch könnten – wie in Bayern – die Entwicklungsfortschritte der Kinder protokolliert werden. Pro Einrichtung sollte eine Kindergärtnerin dafür qualifiziert werden, Entwicklungs- und Sprachdefizite von Kindern besser zu erkennen, damit diese schon im Kindergarten gefördert werden können.

Die wichtigen Vorbereitungskurse für Vorschulkinder werden bisher nur etwa einem Viertel bis einem Drittel der bedürftigen Kinder angeboten. Hier muss schnellstmöglich eine Bedarfsdeckung gewährleistet werden. Andere Bundesländer wie das CDU-regierte Hessen sind deutlich weiter.

Die Angebote der Schule von acht bis 16 Uhr, die Vorschulkurse und Programmangebote der Ganztagsgrundschulen werden überwiegend von 400 Euro-Kräften erbracht. Deren Qualifikationsniveau ist oft gut, handelt es sich doch meist um Frauen mit pädagogischer Ausbildung und/oder um erfahrene Mütter. Diese Frauen wird man nur dann halten, wenn Ihnen auch Fortbildungen und Perspektiven geboten werden.

Alle genannten Initiativen der Landesregierung basieren auf Improvisation [...] Als Kontrast zur sonstigen Überregulierung im Schulbereich hatte dies durchaus Vorteile. Doch ein Dauerzustand kann das nicht bleiben.

Die in NRW flächendeckend eingeführte flexible Eingangsstufe an der Grundschule kann sich auf positive Erfahrungen vieler Modellschulprojekte stützen. Dennoch ist ein erfolgreicher Versuch kein Garant dafür, dass es auch in der Regelschule mit einer durchschnittlich motivierten Lehrerschaft, Elternschaft und knappen Mitteln klappt. Von den im Schnitt nicht mehr jungen Lehrern wird eine Umstellung der Didaktik verlangt. Dazu bräuchten die Grundschulen dringend Unterstützung, zumal bei dieser Reform niemand „einen Fehlschuss frei hat“. Aber auch hier setzen die Finanzen enge Grenzen. [Doch es] könnten aus der Jugendhilfe Sozialarbeiter für die Unterstützung von Lehrern in den Grund- und später auch in anderen Schulen umgelenkt werden. Es wird oft vergessen, dass in dem finnischen Modell auf drei Schulklassen eine unterstützende pädagogische Fachkraft kommt.

Bei den weiterführenden Schulen macht die Autonomie Fortschritte, gleichzeitig gibt es mit zentralen Vergleichstests ein Element der Qualitätskontrolle. Diese Ansätze sollten zu einem regelrechten Rating-Verfahren ausgebaut werden, das dann deutlich mehr pädagogische Energie freisetzen wird als noch so viele Ukas aus dem Bildungsministerien.

Wenn alle diese Baustellen abgearbeitet sind, kann man sich auch der Frage zuwenden, ob es nicht Sinn macht, in Gegenden mit geringerer Bevölkerungsdichte und zurückgehenden Schülerzahlen Einheitsschulen einzuführen. Einem solchen Ansatz kann sich die CDU auch deshalb nicht verweigern, weil die eine oder andere Gesamtschule in CDU-regierten Gemeinden des Münsterlands oder am Niederrhein in der Tat gut funktionieren und die wenigen Lichtblicke in der Gesamtschullandschaft darstellen.

Zugegeben: Bildungspolitik als handwerkliche Qualitätsarbeit zu verstehen, ist kein plakatives Konzept für einen Wahlkampf. Dennoch kann sie sich auch für die Grünen auszahlen: Denn eine beharrliche Fortsetzung des skizzierten Programms wird rascher Früchte tragen als viele Skeptiker glauben. Zum anderen arbeiten gerade im Bildungssektor viele Menschen, die grün wählen. Deren Gemütslage ist bestenfalls zwiespältig.

Auf der einen Seite wird das Reformpotenzial der Landesregierung durchaus positiv gesehen. Dies kontrastiert aber mit der täglichen Erfahrungen, dass großen Worten zu wenig Taten folgen [...] und die Politik dazu neigt, 80 Prozent des Reformbedarfs auf den Schultern der Beschäftigten abzuladen. Demgegenüber kann bildungspolitische Qualitätsarbeit helfen, den Pädagogen an der „Front“ mehr Unterstützung zukommen zu lassen, Erfolge erfahrbar zu machen und den Zirkel aus Frustration und Misserfolg zu durchbrechen. Eine Schulstrukturdebatte könnte das Gegenteil bewirken.

*ROGER PELTZER ist Sprecher der Bundesarbeitsgemeischaft (BAG) Nord Süd von Bündnis 90/Die Grünen und war kommunalpolitisch im Erftkreis tätig

■ Das ungerechte Schulsystem gehört abgeschafft

VON BRIGITTE SCHUMANN*

Die Beschränkung auf die „Optimierung“ des Schulsystems ist haargenau das, worauf sich die Kultusministerkonferenz nach PISA I eingeschworen hat und woran sich das NRW-Schulministerium bis heute orientiert. Diese Strategie, gepaart mit der Warnung vor ideologischen Grabenkämpfen, ist nichts als das unverantwortliche Verleugnen oder feige Verschweigen der unangenehmen Wahrheiten, die uns PISA I und PISA II beschert haben.

Die Tatsache, dass die deutschen Leistungsergebnisse bei PISA II allerhöchstens Mittelmaß sind, könnte man noch verschmerzen. Unerträglich ist, dass ein Viertel der Schüler in Deutschland am Ende der Sekundarstufe I chancenlos als Bildungsverlierer auf der Strecke bleibt. Die Kompetenzunterschiede innerhalb unserer Schülerschaft in der Lesefähigkeit und in Mathematik erreichen eine beängstigende Ausprägung und sind sehr viel stärker als in den meisten OECD-Ländern an die soziale Herkunft gebunden. Die im Vergleich zu PISA I erreichten Lernzuwächse am Gymnasium haben den Leistungsabstand zu den Hauptschülern noch vergrößert. Eine Verbesserung für alle ist nicht in Sicht, da die Schulformzugehörigkeit maßgeblich den Lernerfolg bestimmt.

„Die PISA-Studien beweisen nicht die Überlegenheit eingliedriger Schulsysteme“

Es ist bestenfalls eine Selbsttäuschung, Leistungssteigerung und Chancengleichheit durch „Optimierung“ erreichen zu wollen. Dieser Weg läuft bei der Hauptschule und der Sonderschule schon lange ins Leere, und zwar nicht weil die Lehrer dort pädagogisch unfähig sind. Das System selbst erweist sich als Produzent von Schulversagen.

Als Folge der Bildungsexpansion hat eine soziale Entmischung in den Hauptschulen stattgefunden und die Schüler aus benachteiligten sozialen Verhältnissen dort allein zurückgelassen. Zusätzlich können sich Gymnasium und Realschule auf Kosten der Hauptschule und deren Schülerschaft entlasten. Die faktische Abwahl der Hauptschule durch die Mehrheit der Bevölkerung ist ein nicht mehr umkehrbarer Prozess. Auch nicht in Bayern, wo die bislang günstigere Leistungsmischung in den Hauptschulklassen mit günstigeren Leistungsergebnissen erkauft wird mit der höheren sozialen Selektivität des bayerischen Systems – mit einer größeren sozialen Chancenungleichheit.

Während die Sonderschule immer schon eine Schule der „Armen“ war, sind soziale Verarmung, Mangel an Selbstwertgefühl und eine hohe Belastung durch häusliche Probleme die Kennzeichen der Lernmilieus in Hauptschulen geworden. „Social skills“ können die Schüler voneinander kaum lernen. Wenn Schüler, die nicht einmal den niedrigsten Schulabschluss erreichen, in Deutschland aus der Hauptschule oder der Sonderschule kommen, dann drückt sich in diesem Misserfolg ihre doppelte Benachteiligung aus. Besonders dramatisch stellt sich der Anstieg der schulisch Gescheiterten bei den Migranten dar. Ein Drittel der Jugendlichen zwischen 20 und 29 Jahren ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind nach einer Auswertung durch das Bundesinstitut für Berufsbildung ohne Berufsabschluss geblieben.

Die Botschaft von PISA, dass das deutsche Bildungssystem sozial benachteiligte Schüler und Migranten vernachlässigt, hat die Bildungspolitik veranlasst, Verbesserungen für den Elementar- und Grundschulbereich einzuleiten. Aber selbst wenn diese alle umgesetzt werden, ihre Wirksamkeit kann nicht durchschlagend sein, solange die Politik alle Erkenntnisse zum notwendigen strukturellen Umbau unseres sozial selektiven Schulsystems systematisch verleugnet.

Aus dieser bitteren Erkenntnis heraus finden immer weniger Pädagogen den Weg zur Hauptschule und fordern umgekehrt immer mehr Hauptschullehrer selbst die Abschaffung der Hauptschule. Die Prediger der „Optimierung“ sorgen dagegen mit ihrem Einsatz für den Strukturerhalt dafür, dass sozial benachteiligte Schüler durch das Lernen in benachteiligenden Lernmilieus doppelt benachteiligt bleiben, während bestehende Bildungsprivilegien für Kinder mit sozialem und kulturellem Kapital aufrechterhalten werden.

Das wollte schon der Deutsche Bildungsrat mit der Einführung der Gesamtschule als einer Schule für alle in siebziger Jahren geändert wissen. Leider ist ihm die SPD unter dem Druck der Konservativen nicht gefolgt. So wurde die Gesamtschule an das problematische selektive Schulsystem als vierte Schulform angehängt. Wer die historischen Konstruktionsfehler den Gesamtschulen heute anlastet und gleichzeitig ignoriert, was trotz alledem durch die Gesamtschulen für die Verbesserung der Chancengleicheit geleistet wurde und wird, setzt genau die Schlammschlacht fort, vor der er zu warnen vorgibt.

In keinem anderen Land mit Ausnahme von Österreich und einigen Kantonen der Schweiz findet die Selektion schon nach Klasse 4 statt. Inzwischen erkennen dank PISA immer mehr Menschen in dem deutschen Weg den „Holzweg“. In NRW hat sich deshalb ein gesellschaftliches Bündnis für eine Schule für alle gebildet, in der alle Kinder bis zum Ende der Schulpflichtzeit gemeinsam lernen und individuell gefördert werden [...] Der Weg dahin ist eine allmähliche Transformation der selektiven Schulrealität zu einer integrativen. Er erzwingt kein Umschalten von heute auf morgen und kann alle Gutwilligen mitnehmen.

Die Grünen in NRW und inzwischen auch auf Bundesebene machen sich zum politischen Motor für diesen Weg. Und das ist genau richtig so, weil wir keine Zeit zu verlieren haben für die Umstellung unseres ungerechten und leistungsfeindlichen Schulsystems!

*BRIGITTE SCHUMANN ist freie Bildungsjournalistin. Von 1990 bis 2000 saß sie als bildungspolitische Sprecherin für Bündnis 90/Die Grünen im Landtag NRW

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