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Der Vielklang der letzten Tage

WELTSEKUNDE Von Jena über Köln nach Stonehenge: Die Fotoausstellung „East for the record“ in der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst zeichnet nach, wie die DDR und der Rest der Welt in der Umbruchzeit des Herbstes 1989 aussahen

Westbesuch im September 1989: Der Trabi der Fotografin Karin Wieckhorst kommt in die Porsche-Werkstatt

VON ROBER SCHIMKE

August 89. Über Ungarn hauen DDR-Bürger in den Westen ab, einen letzten Sommer lang legt sich brütende Hitze über den von der SED regierten Teil Deutschlands. Der Leipziger Künstler Maix Mayer fotografiert den Bauch seiner schwangeren Freundin. Die Berliner Fotografin Tina Bara legt die Kamera beiseite und weiß noch nicht, warum.

Einige Wochen später, Ende Dezember, fotografiert Evelyn Richter ein zerzaustes Paar vor dem Brandenburger Tor, es regnet. Tina Bara verstaut Kontaktabzüge in einem Karton und versieht ihn mit einem Zettel: „Ab Januar 1990 Wiederaufnahme eigener Arbeiten.“

Eine Zeitspanne voller unterschiedlicher Erinnerungen, die sämtlich mit einem Ereignis verknüpft sind: mit der Wende. Erzählt werden diese Erinnerungen derzeit in der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst von 76 Fotografen aus Ost und West. Sie haben für die Ausstellung „East for the record“ mit privaten Erinnerungen verknüpfte Fotografien aus ihren Archiven herausgesucht, die zwischen Ende August 1989 und Anfang Januar 1990 entstanden sind.

Chronologisch angeordnet und begleitet von kurzen Texten, entwerfen die Bilder einen Vielklang der DDR-Endzeit – von ihren letzten Hundstagen über die Paraden zum 40. Republikgeburtstag bis hin zum Mauerfall und dem folgenden Winter, der nutzlos gewordene Grenzanlagen sanft mit Schnee bedeckt.

Wie ein Klischeebild der alten Bundesrepublik wirkt ein Foto von Ursula Edelmann. Im September fotografiert sie auf dem Frankfurter Museumsuferfest, wie drei edel kostümierte Damen die Posen auf zwei Bildern von Renoir und Kirchner nachspielen. Dieser Kosmos ist mindestens genauso weit weg vom verrußten Bitterfeld oder von der grünen Grenze in Ungarn wie von der heutigen Bundesrepublik: Würde man dieser Tage einen Kirchner oder einen Renoir einfach so auf die Museumsterrasse stellen?

Am 11. September sieht man junge Leipziger Fotografiestudenten mit dem Ruderboot an der stinkenden Saale: ein trotziges, vorweggenommenes „Wir bleiben hier“. Ein Bild weiter ist der Fluss in Jena angekommen, später wird er zur Elbe: Eine Kleinfamilie posiert auf einer spießigen Sofaecke unter einer Dresdner Canaletto-Ansicht und den Porträts von Hölderlin, Goethe und Thomas Müntzer. Uwe Tellkamp hätte sich das nicht besser ausdenken können.

Aber genau dieses Konstruierte, der Umstand, dass sich die vorgeblich zufällig eingesammelten und von den beteiligten Fotografen persönlich ausgesuchten Ereignisse zu einer derart gut geknüpften Narration fügen, macht einen dann doch stutzig. Ist das ein – reizvoller – erzählerischer Bluff oder der Wahnwitz historischer Zufälle?

Die Ausstellung wechselt zwischen persönlichem Erinnern und äußerem Erleben. Fotografin Karin Wieckhorst schildert, wie sie Anfang September ein rares Künstlervisum bekommt und mit dem Trabi nach Köln reist. Dort nimmt das Auto Schaden und wird ausgerechnet in einer Porsche-Werkstatt repariert. Eine Schnurre, die schließlich den Dreh ins Welthistorische bekommt: Wieckhorst trifft am 9. Oktober wieder in Leipzig ein, 70.000 Menschen demonstrieren dort, über sich die Drohung, Leipzig könnte ein zweites Tiananmen werden.

Einen Tag später eilt auf einem Bild von Peter Oehlmann ein Tourist an den Monolithen von Stonehenge vorbei – Symbol für Ewigkeit schlechthin – und schaut auf die Uhr: Was schlägt die Weltzeit in diesen Tagen?

Ausflüge nach Bukarest, wo gerade Ceaușescu entsorgt wird, oder eine fotografische Erinnerung an die Wendezeit von Wim Wenders – er steuert die Aufnahme eines australischen Termitenhügels bei – verknüpfen die Ereignisse mit dem Rest der Welt. Beiträge von Regina Schmeken oder Barbara Klemm verbürgen den Anspruch der Ausstellung, Ost und West, künstlerische und dokumentarische Seite zusammenzubringen.

Es folgen die Prager Botschaftsszenen, Tänze auf der Mauer, stilles Staunen und Einheitsbierseligkeit. Zur Ruhe kommt die Ausstellung in der Provinz. Während die zerlöcherte Berliner Mauer längst zum Sinnbild der Wende geworden ist, schaut Fotograf Alfred Seiland am Neujahrsmorgen 1990 in den thüringisch-fränkischen Grenzort Mödlareuth, ein Dorfidyll aus Grenzturm und Anger.

76 Fotografen, 76 Blicke auf den Herbst, der zwei deutsche Staaten veränderte. Den Chor der Erinnerungen fasst am besten der Fotograf Matthias Hoch zusammen. „Hunderttausende hatten ein gemeinsames Ziel“, schreibt er. „Es war fantastisch, währte aber nur eine Weltsekunde. Danach gingen die Ziele, Wünsche und Vorstellungen weit auseinander.“

■ Bis 7. Juni, Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig

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