piwik no script img

Dem Geist der Zeit verpflichtet

Wenn der Verbrecher von heute im Unterschied zum Bürger lediglich der ungeduldigere Kapitalist ist, bleibt dem Detektiv nur noch die Flucht in den Alkohol: „Wiederkehr des Bösen? Der Kriminalroman auf neuen Wegen“, eine Tagung in der Evangelischen Akademie Iserlohn

Das Schreiben von Kriminalromanen besteht vor allem aus jahrelanger Recherche und Vorarbeit

Verbrechen lohnt sich – und wer immer noch Schwierigkeiten hat, diesen Allgemeinplatz zu akzeptieren, sollte in die Bestsellerlisten der letzten Jahre schauen: Dan Brown, Donna Leon, Henning Mankell oder Elizabeth George erreichen Millionenauflagen, und auch hierzulande können immer mehr Autoren von ihren Krimis leben.

Warum aber lesen wir immer wieder und immer mehr die Geschichten von der Aufklärung dieser meist blutigen Taten, die in der Wirklichkeit der Kriminalstatistiken kaum ein Promille ausmachen? Was sagt diese Lektüre letztlich über uns und die Gesellschaft, in der wir leben?

Ein Fall für die Wissenschaft: „Wiederkehr des Bösen? Der Kriminalroman auf neuen Wegen“ lautete am letzten Wochenende die Veranstaltung in der Evangelischen Akademie Iserlohn und versammelte gut drei Dutzend Wissenschaftler, Studenten, Autoren, Verleger, Fans und Leser. „Ohne Zweifel trägt der Kriminalroman alle Merkmale eines blühenden Literaturzweiges zur Schau.“ Was Bert Brecht, der sich die Romane Thomas Manns und anderer zusammenfassen ließ, um mehr Zeit fürs Krimilesen zu haben, Ende der Dreißigerjahre feststellte, sei heute zutreffender denn je, so der Literaturwissenschaftler und Mitorganisator der Tagung Jochen Vogt, Professor an der Universität Duisburg-Essen, zur Eröffnung: Der Kriminalroman habe sich zur dominierenden Romanform des beginnenden 21. Jahrhunderts entwickelt. Während die kapitalistische Herrschaftsordnung weltweit zur einzig gültigen und möglichen erklärt wird, erschließt sich der Krimi immer neue Territorien und entwickelt sich zu einer globalisierten Kulturform mit je eigenen lokalen Ausprägungen.

Seine Popularität bleibt dabei nicht aufs Buch beschränkt. Längst dominieren Krimiserien die Fernsehprogramme. Die „Tatort“-Reihe etwa inszeniert in bisher über 500 Folgen Kriminalfälle im zeitgenössischen Alltag und schreibt so gleichsam eine heimliche Kulturgeschichte bundesrepublikanischer Befindlichkeiten. Auch im Buchbereich haben immer mehr deutschsprachige Produktionen bei nachhaltiger Steigerung der handwerklichen Qualität teil am Erfolg des Genres. Creative-writing-Kurse zeigen ihre Wirkung, Techniken und Verfahren modernen literarischen Schreibens wie etwa das Spiel mit Erzählperspektiven und innere Bewusstseinsströme gehören mittlerweile zum Standard kriminalistischen Erzählens.

Der Krimi zeigt sich stets auf der Höhe seiner Zeit, wenn es darum geht, jeweils aktuelle gesellschaftliche Phänomene und Probleme aufzunehmen. Die Kindermörder finden sich hier genauso wie neuerdings die „Mörderkinder“, bei denen es sich allerdings, wie die Germanistin und Didaktikerin Sigrid Thielking darlegte, nur scheinbar um eine moderne mediale Erscheinung handelt – von mordenden Kindern berichten bereits Zeugnisse des 16. Jahrhunderts. Desgleichen kannten auch schon Kriminalerzählungen im frühen 19. Jahrhundert die Vorliebe für detaillierte Leichenbeschreibungen, wie sie in den letzten Jahren immer populärer werden.

Wovon zeugt aber die breite Zunahme von fiktionalen Serienmorden, verübt von pathologischen Killern, die keinen rational nachvollziehbaren Motiven mehr verpflichtet zu sein scheinen und selbst die mit allen Finessen moderner Wissenschaft ausgestatteten Profiler an den Rand der Aufgabe zwingen? Sind sie das Ewig-Böse, das da draußen oder tief in uns drinnen schicksalhaft lauert? Nicht mehr zu erklären, sondern nur noch zu bekämpfen?

Der Bielefelder Soziologe Otthein Rammstedt glaubt auch im Krimi nicht an das Böse als anthropologische Konstante außerhalb der Definitionen einer Gesellschaft, es ist ihr mit seinen Verbrechen immanent und folgt ihrer Zweck-Mittel-Rationalität. Der Krimi zeige sich dem Geist der Zeit verpflichtet, und so sei der Verbrecher im Unterschied zum Bürger lediglich der ungeduldigere Kapitalist. Allein der Detektiv glaube noch an eine Moral jenseits dieser Systemlogik und könne sich, zunehmend desillusioniert, nur noch mit immer mehr Alkohol vor der finalen Verzweiflung retten: von Philip Marlowe zu Bella Block.

Und was meinen die Urheber? Nach den Gesetzen der Literaturwissenschaft gelten sie allesamt als tot, aber als Leser möchte man schon wissen, welcher Mensch hinter dem Namen überm Titel steckt. Am Abend lasen Walter Wehner und Sabine Deitmer – beide Träger des deutschen Krimipreises – und warnten alle potenziellen Schriftsteller: Das Schreiben von Kriminalromanen bestehe vor allem aus jahrelanger Recherche und Vorarbeit. Rutger Booß, mit seinem Grafit-Verlag der erfolgreichste deutsche Krimiverleger, ergänzte in aller Deutlichkeit, wie man sich gewinnbringend in diesem boomenden Segment eines stetig schrumpfenden Lesemarkts verhält.

Gefragt seien Krimis mit Mehrwegfunktion, die wie beispielsweise der historische Krimi Spannung mit Wissensvermittlung verknüpften. Subgenres wie der düstere Roman noir oder Politthriller treten hinter Plots zurück, wie sie etwa der Bestsellerautor Jacques Berndorf in seinen Eifel-Krimis liefert: Alltag mit Haustieren, Heimat und Natur, die vom Auto aus genossen werden kann, das rechte Maß an Liebe und Erotik und aufrichtige Männerfreundschaft, die höchstens einmal durch Ermittlungsprobleme getrübt wird. Was das nun über die bundesdeutsche Gesellschaft aussagt, dürfte auf folgenden Konferenzen hinreichend geklärt werden.

CARSTEN WÜRMANN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen