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MODERNES LESEN VON SUSANNE MESSMERDas Befremden

Linda Stift: „Kingpeng“. Deuticke im Zsolnay Verlag, Wien 2005, 157 S., 16,90 €

Ihre Körpersinne sind geschärft. Egal ob sie gerade fern sieht oder sich auf einer Party unterhält: Kingas rätselhafte Verdickung hinterm linken Ohr ist immer dabei – und sie schwillt und klopft besonders, wenn sich wieder eine ihrer seltsamen Blackouts ankündigt. In den Spiegel schaut sie mit Befremden, beim Schwimmen liebt sie am meisten, dass man außer Chlor nichts riecht. Auch die Leiber anderer Leute nimmt sie übersteigert wahr: die Körperbehaarung und den sauren Schweißgeruch potenzieller Liebhaber, die fettige Gesichtshaut einer Freundin oder das schabende Geräusch, das ihr Bruder Nick verursacht, wenn er sich im Bad der gemeinsamen Wohnung am Schamhaar kratzt.

Kinga und Nick wohnen nicht nur zusammen, sie betreiben auch gemeinsam einen Partyservice und sind ein gutes Team – sieht man einmal davon ab, dass Kinga zum großen Ärger ihres Bruders ihre eigenen kalten Büfetts nicht anrührt, verdächtig oft kotzt, sich obsessiv ihren Selbstmordfantasien hingibt und hartnäckig seine Unterhosen trägt. Doch der Sommer, den Linda Stift in ihrem Debütroman „Kingpeng“ erzählt, bringt alles aus dem neurotischen, aber wenigstens doch ereignislosen Gleichgewicht: Kinga und Nick werden Teil der Welt der reichen Nachbarn und Zeugen eines Mordes am schönen, jungen Butler, in den Kinga sich gerade verlieben wollte. Nach und nach schwemmt an die Oberfläche, dass Kinga und Nick vermutlich schon seit dem Tod ihres Verlobten vor Jahren ein inzestuöses Verhältnis pflegen. Oder dass sie zumindest davon träumen. Und dass sie wohl mehr mit all dem Sterben um sich herum zu tun haben, als sie es sich eingestehen.

Auch wenn die Geschichte der 1969 geborenen Linda Stift manchmal ein bisschen zu kontrolliert ihren Plot verfolgt und in der Schilderung der High Society von nebenan so himbeerfarben wirkt wie die „Große Sommergeschichte“ in der Brigitte oder der Freundin: Mit Kinga hat sie eine fesselnde Figur hinbekommen. Beeindruckend, wie sie die Welt in bedrohliche Einzelteile zerlegt, das Ekelhafte heranzoomt und gleichzeitig alles stur wegzuschieben vermag, was sie wirklich aus ihrem somnambulen Dämmerzustand reißen könnte.

Versehrter Körper

Melanie Arns: „Heul doch!“ Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2004, 106 S., 16 €

Eine schlimme Jugend: In Melanie Arns’ Romandebüt „Heul doch!“ geht es nicht nur um vergebliche Bewerbungsgespräche, von denen man öfter in Jugendbüchern liest, um Verliebtheiten aus Langweile, um eine peinliche Schwärmerei für den Religionslehrer und die üblichen Demütigungen im Sportunterricht. Melanie Arns’ Erzählerin masturbiert nicht nur hin und wieder auf dem Schulklo, kotzt dann und wann und ritzt sich öfter mal die Haut auf, sie flirtet nicht nur mit Bulimie, Autoaggression und Todessehnsucht: Melanie Arns’ Heldin hat es schlechter.

Wenn man von der Geschichte ausgeht, die die erst Mitte zwanzigjährige Melanie Arns erzählt, könnte man meinen, man habe es mit einem Problembuch für Teenager zu tun. Der Bruder der Heldin ist als Kind erstickt, der Vater und die Mutter saufen sich zu Tode. Sie selbst hat bei einem Autounfall ein Auge verloren, wird vom Vater vergewaltigt und hat Aids. Weil es aber nach jeder neuen Zumutung, die dem Leser zusetzt, ein paar Seiten später eingeräumt wird: „Wer mir glaubt, ist selber schuld. Ich bin nicht krank, ich werde nicht sterben, ich habe kein Aids“ – darum ist dieser Roman kein Problembuch. Es geht nicht um Lösungen, sondern um Gräben und Hindernisse, die sich wie von selbst immer tiefer aufreißen und höher aufschütten – und um die Unsicherheit, ob sie nicht allesamt selbst gemacht sind. Der versehrte Körper ist der letzte Garant für wirkliche Wirklichkeit und echte Individualität – aber wer sagt eigentlich, dass diese unsere Welt so synthetisch ist?

Melanie Arns hat kein Buch geschrieben, das man wegen seiner aufregenden Geschichte liest, sondern ein Buch, über dessen Schreibweisen man sich aufregt, über seinen atemlosen Ton, die kunterbunten Anleihen bei Slapstick und Comic, Jugendjargon und Werbesprache. Und so verwandelt sich ein bleierner Verdacht inklusive Familiendrama in eine mitreißende Geschichte um die Großmäuligkeit in der Adoleszenz, den Übersichtsverlust, das überzogene Selbstbewusstsein, das jederzeit in Minderwertigkeitskomplexe umschlagen kann – und das gleichzeitige Wissen darum, wie wenig ernst das alles zu nehmen ist.

Leises Pfeifen

Yôko Ogawa: „Liebe am Papierrand“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2004, 255 S., 19,80 €

Gehörverlust ist mit Sicherheit eine der poetischsten und lakonischsten Metaphern für Weltflucht, Resignation und Einkapselung. Die junge Frau ohne Namen in Yôko Ogawas dritten ins Deutsche übersetzten Roman hat ein, wie sie findet, vollkommen normales Leben geführt. Sie hat sich verliebt, hat geheiratet und glücklich mit ihrem Mann gelebt. Eines Tages jedoch wird sie aus heiterem Himmel verlassen – und am nächsten Morgen bricht ein seltsames Geräusch in ihr Leben. Es klingt wie der Ton einer Querflöte; es ist ein Tinnitus, allerdings einer, der ihr ganz gelegen kommt.

Von nun an kann sich die junge Frau in „Liebe am Papierrand“ ganz ihrem Innenleben widmen – dieser leeren Zwischenzeit des Nichtmehr und Nochnicht, wie man sie auch aus den Büchern des japanischen Starautors Haruki Murakami kennt. Ein Versuch, sich nach halbwegs geglückter Behandlung bei verschiedenen Firmen zu bewerben, lässt sie nur erschüttert feststellen, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nichts produziert hat und auch jetzt noch nicht dazu in der Lage ist. Alles, was sie will, ist weiter in die Klinik gehen, ihrem Neffen Walnusskuchen backen, den Esstisch polieren und einem Stenografen, den sie zufällig kennen und lieben gelernt hat, die kurze Geschichte ihres Lebens diktieren.

Doch erschöpft sich Yôko Ogawas Roman nicht in einer Leidensgeschichte. Weder geht der Gehörverlust in seinem Symbolismus auf, noch genügt sich der Alltag darin, dass man sich an ihm festhalten soll. Der Zauber, der von diesem Buch ausgeht, ist: Nichts geschieht nur aufgrund seiner Bedeutung. Der Tinnitus ist so plastisch geschildert, dass man selbst manchmal ein leises Pfeifen zu hören glaubt. Die banalsten Dinge sind so übergenau beschrieben, dass sie einem fast entgegenschlagen.

Schönes Einerlei

Lena Gorelik: „Meine weißen Nächte“. SchirmerGraf Verlag, München 2004, 271 S., 18,80 €

Dies ist ein unbeschwertes Buch. Erzählt wird die Geschichte von Anja, einer jungen Frau, die – ganz wie ihre Erfinderin Lena Gorelik – in Sankt Petersburg aufwuchs, Anfang der Neunzigerjahre zusammen mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland kam und zunächst in einem Wohnheim leben musste. Heute wohnt Anja in München, schlägt sich mit Beziehungsproblemen, Univorlesungen und Hollywoodfilmen herum und unterscheidet sich, wie sie hofft, in fast nichts mehr von den meisten ihrer Altersgenossinnen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. In fast nichts. Denn erstens sind da ihre Erinnerungen – und zweitens ist da ihre laute und sentimentale Familie.

So, wie sich Anjas Wunsch nach Angleichung von dem unterschiedet, was sie wirklich ist, so zerfällt auch Lena Goreliks erster Roman „Meine weißen Nächte“ in die langweiligen Schilderungen eines öden Münchener Alltags – und in die Beschreibung der russischen Herkunft. Da sind die nach Walderdbeeren und Tannennadeln riechenden Kindersommer in der Datscha der Großeltern, da ist der Kampf um Grundnahrungsmittel, Studienplätze und Ausreisegenehmigungen, da sind die beengten Verhältnisse im Wohnheim, ist der erste Schultag mit Klassenkameraden, deren Sprache man nicht versteht. Und da sind die täglichen Anrufe der „sehr emotionalen, sehr russischen Mutter“ heute, die ihrer Tochter im selben Atemzug grenzenlose Liebe schwört und ihr gleichzeitig vorwirft, sie kümmere sich nicht um die Familie. All das ist spannender als das Hier und Jetzt.

Vielleicht aber ist das Langweilige an diesem Roman – das bundesdeutsche Einerlei, nach dem sich Anja so sehr sehnt – auch gerade das Interessante. Schließlich liest man von einem solchen doch eher selten. Und taucht es doch einmal auf, dann lauert oft das Monströse hinter der Hollywoodschaukel.

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