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Unter Geiern

SELBSTVERSUCH Bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg, die am Samstag beginnen, spielen außer echten Schauspielern und vielen Pferden auch Komparsen mit. Doch der Versuch, beim Casting zu bestehen, gestaltet sich schwierig

VON TIEMO RINK

Mitten in Bad Segeberg steht ein älterer Herr mit Lederweste vor einem Totempfahl und übt Indianergeheul. Eine Gruppe vorbeilaufender Jogger zeigt sich unbeeindruckt – jaulende Männer scheinen beim Statisten-Casting der Karl-May-Festspiele keine Besonderheit zu sein. 40 Komparsen werden für den „Schatz im Silbersee“ gebraucht, rund 250 Menschen drängen sich in der kleinen Westernstadt, die neben dem Freilichttheater aufgebaut ist.

Ich mag Indianer, edle Verlierer sind mir sympathisch. Indianer sein bedeutet, die Kunst des würdevollen Untergangs zu beherrschen. Groß war daher die Verlockung, als Komparse beim Winnetou-Spektakel mitzuwirken. Ums Geld darf es dabei nicht gehen: 1.500 Euro bekommen die Statisten am Ende der Spielzeit für rund siebzig Auftritte und unzählige Stunden Probenarbeit. Es geht – wie immer bei Karl May – um Grundsätzlicheres.

Doch der gesunde Dogmatismus, die einzig angemessene Geisteshaltung einer korrekten Winnetou-Rezeption, geht der Festspielleitung ab. „Wer eben noch ein Cowboy war, kann in der nächsten Szene schon ein Indianer sein“, erklärt Regisseur Donald Kraemer die Aufgaben der Komparsen. Cowboy? Es gibt Trapper, Siedler, die gen Westen ziehen, Banditen, Erpresser und natürlich Shatterhand. Cowboys aber, stumpfe Aggressoren ohne jeden Glamour, haben bei May Sendepause.

Nie ein Cowboy

In Bad Segeberg jedoch dürfen sie auftreten. Eine schauderhafte Vorstellung, als Komparse zwischen Cowboy und Indianer hin und her springen zu müssen. Der Wilde Westen war im Wesentlichen immer eine Stilfrage und eine der Regeln lautete: Sei niemals ein Cowboy. Wer als Jugendlicher freiwillig Cowboy war, richtete sich selber.

Ich bin Bekenntnis-Indianer und gerate dennoch in die Fänge eines Choreografen, der die Tanzfähigkeiten der Bewerber prüfen soll. Hat man Winnetou jemals zur Musik das Bein heben sehen? Ich kann nicht tanzen, will nicht tanzen, muss mich jedoch meinem Schicksal stellen. Dazu gehört auch, dass mein hilfloses Gestolper vor einem üppigen Publikum stattfindet. „Wir machen kleine Schritte und tun so, als würden wir dabei ein großes Ei tragen“, gibt der Tanz-Meister einen Marschbefehl aus, dem ich leider nicht folgen kann.

Jamaikanisches Idealbild

Neben mir schnauft ein weiterer Bewerber unter der erbarmungslosen Knute des Tanz-Papstes. Barfuß, dafür jedoch mit Dreadlocks, Holzperlenketten und einem raffinierten Batik-Hemd entspricht er eher dem jamaikanischen Idealbild eines Indianers. Nützt ihm aber nichts – tanzen kann er genauso wenig wie ich. „Mein weißer Bruder“, wage ich einen zaghaften Annäherungsversuch, auf Verbrüderungseffekte unter Leidensgenossen setzend. Er jedoch tut so, als höre er mich nicht. Wenn selbst Hippies einen ignorieren, wird es ernst.

Vier schleswig-holsteinische Flachlandcowboys mit Hüten und troddelbewehrten Lederjacken sitzen rauchend an einem Holztisch und warten. Sie haben sich als erste dem Martyrium beim Tanzkönig gestellt, nun ist Wartezeit. Eine stark alternativ aussehende Frau mit Federschmuck und Mokassins mustert die Gruppe misstrauisch. Hier treffen Todfeinde aufeinander; nur ein plötzlich auftretendes Fernsehteam kann Schlimmeres dadurch verhindern, dass es einen der Cowboys zum Interview bittet. Stolz linst er in die Kamera und gibt den zu allem entschlossenen Viehtreiber.

„Was für Freaks“, wispert der Kameramann nach dem Interview fassungslos. Tatsächlich ist es ein schmaler Grad, auf dem viele Erwachsene an diesem Tag wandeln. An Karl May, den Spiritus Rector des ganzen Treibens, reicht jedoch noch keiner von ihnen heran. „Meine Werke“, behauptete May einmal, „sind, man kann das wörtlich nehmen, mit meinem Blute aus den Wunden geflossen, deren Narben ich noch heut an meinem Körper trage.“

Alle Schrauben locker

Dass so was Spuren hinterlässt, ist klar. Was heute ein Fall für die geschlossene Anstalt wäre, geht zu Mays Zeiten noch problemlos: Die Auflösung der eigenen Identität zugunsten einer Wunschfigur. So zieht May in seinen späten Jahren gerne in vollem Ornat als sein Alter Ego Shatterhand durchs sächsische Radebeul, bewohnt eine eigens von ihm zu diesem Zweck umgebaute „Villa Shatterhand“ und hat auch sonst auf eine prächtige Art und Weise alle Schrauben locker.

Sein Realitätsverlust verläuft dabei in verhältnismäßig engen Bahnen. „Ich spreche und schreibe: Französisch, englisch, italienisch, spanisch, griechisch, lateinisch, hebräisch, rumänisch, arabisch 6 Dialekte, persisch, kurdisch 2 Dialekte, chinesisch 2 Dialekte, malayisch, Namaqua, einige Sunda-Idiome, Suaheli, Hindostanisch, türkisch und die Indianersprachen der Sioux, Apachen, Komantschen, Snakes, Utahs, Kiowas nebst dem Ketschumany 3 südamerikanische Dialekte. Lappländisch will ich nicht mitzählen“, erklärt er 1894 auf Nachfrage des sechszehnjährigen Carl Jung. Als er dem deutschen Kaiser Wilhelm II. Gutes tun will, spendiert er ihm für die Kolonialkriege seinen Henrystutzen.

Dicke Adern

Stuntkoordinator Dr. Szigeti lauert in einer abgelegenen Ecke der als „Indian Village“ bezeichneten Holzbudenlandschaft. Er prüft die Bewerber auf ihre Kampftauglichkeit. Seit wann erwirbt man als Stuntman Doktortitel? Oder ist Herr Szigeti womöglich gar kein Stuntman, sondern ein Kieferchirurg, der hier vor den Toren der Stadt auf 400-Euro-Basis die Nachfrage schafft, die er nach Dienstschluss selbst befriedigt?

Doch nichts da. Szigeti ist Kämpfer durch und durch. Ein echter Cracker mit umgedrehtem Basecap, Sonnenbrille und gartenschlauchdicken Adern, die er sich durch das stete Zerren an schweren Gewichten eigenhändig unter die natürlich braungebrannte Haut gewuchtet hat.

Rechter Haken

Ihm assistieren zwei muskulöse Jünglinge, die nicht erst heute in Bad Segeberg eingetroffen sein können. Die zwei haben augenscheinlich längst einige Herzen erobert. Tuschelnd und augenzwinkernd rottet sich der weibliche Teil der Landjugend zu einem Halbkreis um die beiden zusammen. Hier geht es nicht um Statistensuche, das Kampftraining ist eher eine Kontaktbörse. „Voll süß“, urteilt eine Blondine wohlwollend, als Nachwuchsstuntman A seinen Bizeps flattern lässt. Eine andere Frau hat in den letzten Tagen wohl schon Erfahrungen mit dem Herzensbrecher gemacht. Mit einem gekonnten rechten Haken wuchtet sie dem Ölprinz das Dauergrinsen aus dem Drei-Tage-Bart-Gesicht. Es klatscht ganz schön, einige Mädchen applaudieren.

Echte Frauen

„Upps“, lächelt sie ihn an und lügt: „Das wollte ich nicht.“ Der Getroffene wirkt unsicher, seine souveräne Rolle ist dahin. Hätte er in den letzten Jahren weniger Gewichte gestemmt und stattdessen mehr Karl May gelesen – er hätte es wissen können: Echte Frauen heißen Ribanna oder Nscho-Tschi, niemals jedoch Dörte oder Elke. Und das Verhältnis zu ihnen endet tragisch: Ribanna wird aus politischen Gründen von Winnetou in eine Zwangsheirat mit einem schmierigen Jungoffizier getrieben. Und um Nscho-tschi muss Old Shatterhand heiße Tränen weinen.

Ich trete den Rückzug an. Unglaublich, dass Pierre Brice all die Jahre in diesem Umfeld durchgehalten hat. Auf dem Parkplatz steht der Lederwesten-Mann und beschimpft seine Frau: „Früher war das hier alles viel besser! Da gab’s hier beim Bewerbungsquatsch wenigstens noch kaltes Buffet!“

Winnetou hätte geschossen.

„Der Schatz im Silbersee“, ab 27. Juni, Bad Segeberg, Freilichttheater am Kalkberg, 20.30 Uhr

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