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Im Netz gefangen

Das virtuelle Literatur-Archiv NRW ist seit dieser Woche offiziell online – aber leider noch ziemlich inhaltsleer

Literatur muss man erleben. Bibliophil veranlagten Menschen ist Literatur im Internet deshalb geradezu ein Graus. Der Computer hat keine Seiten, die man blättern und dabei das Papier befühlen kann. Der Computer riecht nicht nach Druckerfarbe. Außerdem ist es naturgemäß recht umständlich, mit einem PC auf der Toilette zu sitzen oder in der Badewanne zu liegen.

Wer Bücher liebt, wird das in dieser Woche vorgestellte Portal zur Literatur Nordrhein-Westfalens also eher verschmähen. Sowieso ist das „e-zine“ des Rheinischen und Westfälischen Literaturarchivs bislang eher enttäuschend. Nicht strukturell: Das Archiv ist einem Haus nachempfunden, mit Lesesaal, Foyer und Info-Theke. Eine ebenso symbolische wie übersichtliche Lösung, doch was nützt die hübsche Form, wenn es an Inhalten mangelt? Zum Beispiel in der Rubrik „Aktuelles“, wo man eigentlich eine Fülle „ausgewählte Termine“ zu Tagungen oder Literaturveranstaltungen erwarten sollte – aber leider nicht findet: Sage und schreibe zwei Veranstaltungen sind hier gelistet, eine schon vergangene in eigener Sache und ein Hörspiel in Oelde.

Spazieren wir weiter: Von der Info-Theke in den Lesesaal, wo Aufsätze und Interviews lagern, sich Rezensionen stapeln. Dann in die Werkstatt, dem vermeintlichen Herz des Hauses. Neben zeitgenössischer Prosa und Lyrik aus NRW ruhen hier auch Zeugnisse vergangener Tage, ein bislang unveröffentlichter Brief Robert Walsers an Wilhelm Schäfer oder eine von Heinz Rühmann mit Notizen und Strichen übersäte Seite aus dem Drehbuch zur „Feuerzangenbowle“. Abgesehen davon, dass freilich auch hier das haptische Erlebnis fehlt, wirken die Schriftstücke durch ihre Digitalisierung sonderbar leer. Rühmanns Anmerkungen sind außerdem nicht zu entziffern, weil das Dokument – wie die weiteren auch – auf die Ausmaße einer Kinderhand verkleinert wurde. Und eine Möglichkeit, das Blatt zu vergrößern, gibt es nicht.

Also schnell weiter in die Sonderausstellung, die sich momentan Hermann Hesse widmet und seinem Bezug zum Rheinland. Bemerkenswert, dass sich ein vom Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut mitgestaltetes Internetportal in seiner ersten Sonderausstellung einem badischen Schriftsteller nähert und nicht etwa dem Hausdichter. Und doch kommt der Großteil der hier versammelten Aufsätze aus dem Heine-Haus: namentlich aus einem bereits 2002 im Institut erschienen Band. Der hier geworfene Blick auf Hesses Leben und Werk ist logischerweise auf einen kleinen Teil beschränkt: Ein Nischenthema, das Hesse-Leser vom Rhein verschlingen werden. Andere gehen vermutlich in den nächsten Raum.

Ein „lebendiges Archiv aktueller Prozesse“ wollen die Initiatoren erschaffen und gleichzeitig den Archivbegriff neu erfinden: Nicht nur die stoische Konservierung der Vergangenheit, sondern auch die Sammlung zeitgenössischen Materials soll hier unternommen werden. Dass dieses Material aber nur in einer zeitnahen Betrachtung adäquat verstanden werden kann, wie behauptet wird, ist zumindest fraglich. Vieles, was heute geschrieben steht, wird sich erst in einigen Jahren völlig erschließen lassen. Eine endgültiges Verständnis von Literatur braucht Zeit. Was hier geleistet werden kann, ist die akribische Anhäufung von Schriften. Bis der Haufen zu erkennen ist, wird es aber noch dauern. BORIS R. ROSENKRANZ

www.literatur-archiv-nrw.de

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