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Heimat Hochhaus

Im Netz der Geschichten: Florian Thalhofer und Kolja Mensing haben einen interaktiven Dokumentarfilm über die Grohner Düne gedreht. Vier Wochen lang

Hochhaussiedlungen liegen damals im Trend. Als die Bundesrepublik in den 60er-Jahren ihren Weg in die Moderne sucht, verlassen die Architekten und Planer die Zentren und gehen an den Rand. Vor den Toren Frankfurts entsteht die Nordweststadt, im Schatten der Berliner Mauer die Gropiusstadt, und 1971 werden in Bremen-Nord die ersten Blocks aus dem Erdboden gestampft.

Das ist die Grohner Düne. 527 Wohneinheiten, knapp 1.800 Menschen. Die Wohnungen sind komfortabel, mit gekacheltem Badezimmer und Stellplatz in der Tiefgarage. Aus dem Fenster sieht man auf grüne Wiesen. Doch dann werden die Grundstücke im Umland immer billiger, und wer es sich leisten kann, verlässt die Hochhäuser so schnell wie möglich Richtung Eigenheim. Bereits Ende der Siebziger ist die Siedlung auf dem besten Weg, zu einem Ghetto zu werden. Zwanzig Jahre später will man die Hochhäuser am liebsten abreißen: Leerstand und Drogen, Asbest und Bandenkriminalität. Im letzten Moment entscheidet man sich für Sanierung und Rund-um-die-Uhr-Videoüberwachung. Das Image ist weiterhin nicht das Beste, aber die Grohner Düne bleibt.

Soviel wissen Florian und ich aus einigen Zeitungsartikeln, als wir am 1. August in Berlin losfahren. Vier Wochen werden wir im Rahmen eines Projektes der Arbeitnehmerkammer Bremen in der Grohner Düne verbringen, in einer Wohnung im 13. Stock. Im Gepäck haben wir die Domain www.13terStock.de, zwei Notebooks und eine Videoausrüstung – und zwei Biografien, die nichts mit hohen Häusern zu tun haben. Florian stammt aus Schwandorf, einem kleinen Ort in der Oberpfalz, ich bin aus der niedersächsischen Kleinstadt Westerstede. Wir sind in Einfamilienhäusern aufgewachsen, mit Hobbykeller, Car-Port und Gästetoilette. Inzwischen leben wir in Berlin, Prenzlauer Berg und Mitte, und wenn wir Richtung Osten blinzeln, wirken die Plattenbauen von Lichtenberg und Marzahn wie weit entfernt liegende Bergketten.

Was wollen ausgerechnet wir im 13. Stock?

Als wir die ersten Interviews führen, merken wir, wie sich die spärlichen Angaben zur Grohner Düne in Geschichten verwandeln. Ingrid Galla zum Beispiel wohnt mit ihrem Mann von Anfang an hier. Jetzt müssen sie ausziehen. Mit ihrer Rente können sie sich die Miete für die Wohnung im 10. Stock nicht mehr leisten. – Und wenn sie sich einfach hier eine kleinere Wohnung suchen? – Zwei Zimmer sind nur noch schwer zu bekommen: „Zu viele Singles. Heutzutage heiratet ja niemand mehr.“ Vor vierzig Jahren war das anders. „Als das Kind unterwegs war, war klar, dass wir heiraten.“ Damals ist Ingrid Galla achtzehn. Ihren Mann hat sie 1964 beim Tanz in den Mai kennen gelernt: „Es war das erste Mal, dass ich am Abend ausgehen durfte.“ Dann ist sie schwanger. – Sofort? – „Eineinhalb Jahre später.“ Sie heiraten und wohnen zuerst in einer kleinen Dachgeschosswohnung, mit dem Klo auf halber Treppe. 1971 gehören sie zu den ersten Mietern der Grohner Düne. Heute sind ihre Kinder erwachsen und „schämen sich für uns, weil wir immer noch hier wohnen“, sagt Frau Galla, kurz bevor wir gehen.

Nach und nach entfernen sich die Geschichten, die wir mit Kamera und Notizbuch sammeln, von den Hochhäusern. Herr Berisha erzählt uns, wie er und seine Familie als Roma aus dem Kosovo vertrieben worden sind, Herr Özgüvenç, der einen Gebrauchtwarenladen in der Siedlung betreibt und vor dreißig Jahren als türkischer Gastarbeiter eingewandert ist, findet, dass Deutschland endlich die Grenzen schließen muss, und Jochen, der nach einem Unfall bei einem Fallschirmabsprung aus seinem alten Leben gefallen ist, führt vor, dass er mit seiner Satellitenantenne 2000 Fernsehprogramme empfangen kann: „Sogar russisches Frühstücksfernsehen.“ – Geld ist knapp, Arbeit ist Luxus, viele hier haben Pech gehabt. Aber jeder hat eine Geschichte zu erzählen.

Die Grohner Düne, das ist die Welt. Schön und traurig, kaputt, verrückt und brutal. Und sie ist eine Droge. Wir sammeln viel mehr Material, als wir für unseren interaktiven Dokumentarfilm benötigen. Kein Fernsehen, kein Radio, keine Bücher, 24 Stunden nur Grohner Düne. Die ersten Videos stehen schon im Netz, und abends gehen wir schnell noch runter ins Skyline, einem Vereinsheim, das so etwas wie die inoffizielle Kneipe der Siedlung ist. Gerri zeigt Fotos von seiner Harley herum, die leider schon länger in einer Garage steht, aber das ist eine andere Geschichte. Jede Menge Stoff war im Spiel, und das wollen wir natürlich auch noch hören. Wir sind längst süchtig geworden nach der Grohner Düne, die sich für uns innerhalb von ein paar Wochen von einer ganz normalen Hochhaussiedlung in ein riesiges Netz von Erzählungen verwandelt hat.

Dann kommt der Abschied. Die ersten Tage in Berlin sind still und dunkel, doch wenn wir die Augen schließen, hören wir immer noch den Wind heulen. Die Hochhäuser der Grohner Düne bilden nämlich eine Art Trichter, der eine kleine Brise in eine Sturmböe verwandeln kann. Auch durch die Wohnungen fegen immer wieder orkanartige Windstöße durch die gegenüberliegenden Fenster. Türen schlagen, Papier, Zigarettenschachteln und leere Plastikflaschen werden von den Tischen gepustet. Zuletzt wirbelt es einem die Gedanken aus dem Kopf. Platz für Geschichten. KOLJA MENSING

Der Dokumentarfilm „[13terStock] – Geschichten aus dem Hochhaus“ wird am Sonntag, 20. März, um 18 Uhr im KITO, Alte Hafenstraße 30, im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Du – die Stadt“ der Arbeitnehmerkammer Bremen vorgestellt. Mehr Infos unter www.13terStock.de.

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