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Wohin man sieht

Am Bahnsteig der U 2 unter dem Alexanderplatz mischen sich zurzeit Iris Kettners Sozialtest-Dummys unter die Wartenden: Skulpturen, die Verständigung fordern

Selten wohl wird Kunst so umstandslos und schnell von ihrem Publikum adoptiert wie die Skulpturen von Iris Kettner auf dem Bahnsteig der U 2 unter dem Alexanderplatz. Ihre Figuren haben sich den Wartenden anverwandelt, sitzen auf Holzbänken und lehnen an Pfeilern. Und wie zum Dank für diese Nähe nehmen die Passanten sie an wie ein wiedergefundenes Mitglied einer imaginären Familie.

Es macht Spaß, den Leuten zuzuschauen, wie sie den Skulpturen begegnen. Ein Akkordeon-Spieler, der vom Ende des Bahnsteigs die Tangos von Astor Piazolla in den Raum schiebt, liefert fast eine Art Soundtrack zu diesem Film. Der Bahnsteig, einer der letzten, auf dem noch durchgehende Holzbänke stehen, scheint mit einem Mal eine Spur wohnlicher. Eine der Figuren, die in dunklen und absichtsvoll abgetragenen Klamotten an einem der Eisenträger lehnt, verschwindet für einen Moment in einer Gruppe gleich großer Schüler, die ihn dicht umringen und seinen Kopf tätscheln. Andere Schülergruppen halten einen gleichmäßigen Abstand zu den künstlichen Menschen und lenken gerade dadurch den Blick auf sie. Kinder zerren ihre Mütter aufgeregt her, weil sie entdeckt haben, dass diese Wartenden nicht echt sind. Manchmal, wenn alle ihr Tempo verlangsamen, dann kann man die Figuren fast nicht mehr von den anderen unterscheiden und ertappt sich dabei, echte Menschen mit demselben neugierigen Blick wie die künstlichen anzustarren – bis die nächste Bahn kommt, alles sich wieder in Bewegung setzt, nur die Attrappen nicht.

Eine Frau mit einer Bierflasche setzt sich neben den in sich zusammengesunkenen Körper einer der Skulpturen, redet mit ihr und erklärt sie den Umstehenden. Viele machen ein Foto. Es ist überraschend, wer hier alles eine Kamera aus seiner Tasche zieht, griffbereit, als wäre nichts normaler, als jeden Tag über Augenblicke zu stolpern, die es festzuhalten gilt. So entsteht über die Skulpturen hinweg ständig ein Netz von Beziehungen der Blicke, der Verständigung zwischen den Leuten, die sonst nur fremd nebeneinander warten.

Es sind arme und einsame Gestalten, die Iris Kettner auf den Bänken platziert hat. Sie balancieren ungemütlich auf der Kante, die Handtasche sicherheitshalber umgeschnallt, verhuscht in der Haltung, getarnt in Unauffälligkeit: der Mantel dünn, Tasche und Hose aus der Mode, die Schuhe durchgetreten. Dass über ihre Gesichter Masken von Superman-Figuren gestülpt sind, nimmt ihnen nichts von ihrer Haltung der Verunsicherung. Die beiden männlichen Figuren stellen zwar Aggressivität und Coolness aus, doch selten wirkt eine harte Schale so durchschaubar.

Natürlich sind das Stereotypen und Klischees. Iris Kettner nennt ihre Figuren Sozialtest-Dummys, mit denen sie das Klima das öffentlichen Raums erproben will. Soziale Kontrolle austesten: Wo sieht man hin, wo mischt man sich ein, wann ist Hilfe angezeigt? Doch dieses Konzept täuscht auch ein wenig: Den Dummys gegenüber zeigen sich viele Menschen freundlicher und umgänglicher als untereinander.

Frühere Skulpturen von Iris Kettner blieben an Kunstorten. Sie schienen aus nichts als Lumpen und Kleiderbündel geformt, die vage menschliche Haltungen nachahmten. Schlafen, Schutz suchen, in die Ecke gestellt werden: Es war verblüffend, mit wie wenig sie komplexe emotionale Situationen nachstellten. Am konkreten Ort des Bahnhofs allerdings wirkt ihr assoziatives Potenzial reduzierter, der Spielraum der Deutung eingeschränkter. Zu schnell hat man begriffen, woran sie appellieren.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Bahnsteig der U 2 Alexanderplatz, bis 17. April

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