piwik no script img

Können Politiker im Wahlkampf ehrlich sein?JA

LÜGEN Sie versprechen Steuersenkungen, verheißen Großprojekte und kritisieren alle anderen. Es ist wieder Wahlkampf

Egon Bahr (SPD) war unter Bundeskanzler Willy Brandt Architekt der Entspannungspolitik

Zwischen Lüge und Ehrlichkeit liegen Welten. Auch für Politiker gilt: Alles was man sagt, muss wahr sein; man muss aber nicht alles sagen, was wahr ist. Brandt und Scheel haben angekündigt, was sie, falls gewählt, nach Osten machen wollen. „Mehr Demokratie wagen“ war eine Absicht, wie die Rückführung auf einen ausgeglichenen Haushalt durch Steinbrück, den die geplatzte Finanzblase zum Gegenteil zwang. Weder Verhandlungspartner noch Journalisten noch Bürgerinnen und Bürger darf man belügen. Wenn es nicht anders geht, kann man sagen: Zu diesem Punkt kann oder soll oder will ich mich zurzeit nicht äußern. Die Versuchung zum Populismus ist groß. Auch Politiker sind nur Menschen, die ihren Mitmenschen etwas Angenehmes sagen wollen. Sofern sie widerstehen, hoffen sie, dass genügend Wähler klüger sind, als manche Politiker denken.

Renate Künast ist Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag

Politiker können ehrlich sein. Und sie müssen es, wenn sie ernst genommen werden wollen – nicht nur im Wahlkampf. Die Wählerinnen und Wähler merken genau, wer ihnen ein X für ein U vormacht. Wenn CDU, CSU und FDP in der größten Finanz-, Wirtschafts- und Haushaltskrise Steuersenkungen versprechen, wissen die Menschen, dass das nicht finanzierbar ist. Als ich 2007 gewarnt habe, dass die Kunden japanische Hybrid-Autos kaufen, wenn deutsche Hersteller nicht endlich umweltfreundlichere Pkws produzieren, bin ich übel beschimpft worden. Heute wissen alle, dass auch die Abwrackprämie die Spritfresser nicht retten wird. Wenn wir Wirtschafts-, Klima- und weltweite Hungerkrise bekämpfen wollen, müssen wir ganz anders produzieren, transportieren und konsumieren. Das zu sagen, auch wenn es unpopulär sein mag, heißt für mich ehrliche Politik.

Walter van Rossum ist Journalist, Autor und Publizist und lebt in Köln und Marokko

Lügen setzt die Unterscheidung von Wahrheit und Fälschung voraus. Insofern darf man unseren mittigen Landesvertretern gelassen attestieren, nicht zu lügen. Sie operieren meist nicht im Namen einer Wahrheit, die sie aus bestimmten Gründen lieber verbergen. Sie mäandern im Reich der strategischen Vernunft jenseits von Wahrheit und Fälschung. Die meisten politischen Angebote zur Wahl sind nicht einmal falsifizierbar. Und die zentralen politischen Entscheidungen stehen gar nicht zur Wahl: Europa, Euro, Agenda 2010, Afghanistan. Kurz, um zu lügen, bedarf es einer Wahrheit – und einer programmatischen diskursiven Logik, die Wahrheit und Fälschung unterscheiden kann. Und ich wüsste nicht, was theoretisch dagegen sprechen sollte, im Namen einer Wahrheit Politik zu machen – außer vielleicht der Erfahrung der letzten 2.000 Jahre.

Rita Süssmuth (CDU) war von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages

Kann ich als Politikerin meine Kenntnis und Einschätzung beim Namen nennen, wenn mein Wettbewerber das nicht tut, populistisch agiert und mehr Zustimmung erhält? Die Antwort lautet für mich: Mut zur Wahrheit hat Aussicht auf Erfolg. Ich muss nicht der Verlierer sein, wie von zu vielen angenommen wird. Es kommt darauf an, wie ich die Wahrheit sage, ob in Verantwortung und Sorge um den Menschen oder als Faktum, mit dem ich die Menschen allein lasse. Entscheidend ist, Verstand und Gefühle anzusprechen. Ehrlichkeit braucht eine verständliche, authentische und glaubwürdige Übermittlung.

NEIN

Sabina Guzzanti ist italienische Satirikerin, Kabarettistin und Spielfilmregisseurin

Italienische Politiker sind auch dann nicht ehrlich, wenn gerade kein Wahlkampf läuft. Nur wenn sie überzeugt sind, sonst keine Stimme abzukriegen, spielen sie die Karte rückhaltloser Wahrheit aus, und gewöhnlich sind das die schwächsten Politiker aus den kleinsten Parteien. Wahlkampf ist immer die gleiche Farce: Berlusconi macht große Versprechen und hält sie nicht ein. Die deshalb enttäuschten, wütenden Wähler, die von Berlusconis Partei abwandern, sammelt zum Beispiel die Lega Nord ein, die aber ihrerseits im Berlusconi-Bündnis sitzt – selbst den Protest hat Berlusconi optimiert. Perfekt.

Sven Bensmann, Philosophiestudent aus Kiel, hat seinen Beitrag auf taz.de gestellt

Die Philosophen lehren, dass Kommunikation auf der Wahrheitsvermutung beruht, ergo muss ein Politiker, will er ernst oder auch nur wahrgenommen werden, Ehrlichkeit vermitteln. Würde er stets lügen, verlöre alles, was er sagt, seinen Wert – er muss sogar überwiegend ehrlich sein, damit man seine Lügen glaubt. Doch zeigt die Praxis, dass der totalverblödete Wahlpöbel den Lügner in seinem Verhalten bestätigt: Bestrafte der Wähler den Lügner, zwänge er den Politiker zur Ehrlichkeit – im Gegensatz will er beschissen werden, der Politiker kann sich gar nicht in die Realität flüchten. Ergo ist die richtige Frage nicht: „Können Politiker im Wahlkampf ehrlich sein?“, sondern „Dürfen sie?“, und die Antwort ist „Nein!“, da die politisch Interessierten eindeutig eine Minderheit sind – die Stammtische, nicht die Feuilletons, geben in Deutschland den Ton an.

Wolfgang Reinhard ist Historiker und hat Lügen als gesellschaftliches Phänomen erforscht

Wenn Politiker diese Frage mit Ja beantworten, ist das bereits die erste Lüge, zu der sie gezwungen sind. Obwohl es selbstverständlich jedem freisteht, politischen Selbstmord zu begehen. Wer dies freilich vermeiden und wieder gewählt werden will, der hat keine andere Wahl. Die Verlogenheit der Wahlpropaganda ist inzwischen so selbstverständlich, dass sogar ein namhafter Moraltheologe meinte, Wahlkampflügen seien keine Lügen: die Täuschungsabsicht entfalle, wenn niemand mehr daran glaube. Politiker sind keineswegs schlechtere Menschen, sondern nur Sklaven ihres Geschäfts. Große politische Vorhaben sind nämlich nie ohne kleinliche Schachzüge, Intrigen und Täuschungen zu verwirklichen. Wir haben keinen Grund, den Stab über unsere politische Klasse zu brechen, denn wir sind mit Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit und Untreue genauso verlogen wie jene.

Urban Priol ist Kabarettist (u. a. „Neues aus der Anstalt“, ZDF, zusammen mit Georg Schramm)

Drollige Frage. Ein Politiker, angeblich nur seinem Gewissen verpflichtet, hat im Wahlkampf gewissen Nasen verpflichtet zu sein. Da darf man es mit der Ehrlichkeit nicht so genau nehmen. Wer vorne dabei sein will, muss die Version einer gefühlten Wahrheit verkünden, die er gerade noch mit seiner eigenen Realitätsverdrängung vereinbaren kann. Vor jeder Wahl pusten sie die Backen auf, von wegen: Die Wähler liegen uns am Herzen – um am Tag danach von Demenz befallen zu werden. Um sinngemäß mit Münte zu sprechen: „Es ist unfair, Politiker nach der Wahl an dem zu messen, was sie vorher versprochen haben“ – ein Freifahrtschein für legislaturperiodenbedingte Unzurechnungsfähigkeit. Das Volk will die Wahrheit? Blödsinn. Freut man sich etwa beim Arzt über die Diagnose: „Wir können nichts mehr für Sie tun!“? Es gilt das gebrochene Wort.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen