SOMMERMIETSHAUS HEUTE: Der Hinterhofbrüller
Du wirst auch noch so ein Hinterhofbrüller, schimpft Hannah. Jemand, der all seinen Frust auf die Welt stimmgewaltig vor dem Morgengrauen gegen die Brandmauern schmettert. Und die Nachbarn sitzen dann auf einen Schlag um vier Uhr morgens aufrecht im Bett und wissen nicht, was sie tun sollen. Drei Stunden später: Du – mit der Lizenz deines Sozialbetreuers beim Jobcenter („Der Klient ist momentan nicht belastbar und darf deshalb nicht übermäßigen Bewerbungsanstrengungen ausgesetzt werden“) – ziehst den Rotz hoch wie ein Bengel und legst die Beine auf den Frühstückstisch. Unter dir stapelt sich der Staub, die Spinnen knüpfen kunstvoll ihre Netze. Und du denkst immer noch, dass Hannahs Liebe grenzenlos sei.
Jenseits und diesseits der gekippten Doppelglasfenster geht das echte Zetern weiter, das Anlass des Monologs war. Die Nachbarin aus dem Dritten. Die mit dem schulterlangen verfilzten Haar und den Freundschaftsbändchen am Arm schreit an den Wäscheständern im zweiten Hinterhof. Jemand hat den Plasmaschirm mit Verlängerungskabel nach draußen gestellt. Darauf flitzen die Formel-1-Wagen aus einer vorgerückten Zeitzone über den Asphalt. Niemand denkt an Bernie Ecclestone und seine unsäglichen Nazi-Vergleiche. Die fünf Russen aus der verborgenen Hinterhofautoreparaturwerkstatt klatschen Beifall. Nach dem Ende der Übertragung stimmen sie sehnsüchtig einen Kaukasustango an. Der Bratenduft ihrer laut Verpackung Thüringer Würstchen steigt zu meinem Fenster hinauf.
Hannah sagt, ich war eine Woche weg, und deine Wohnung gleicht einem Desaster. Ja, räume ich ein, du hast recht, und leere den zum Nachttopf umfunktionierten Messbecher hinter meinem Rücken in die Spüle. Hannah sieht alles, ich weiß. Sie hat irgendwie recht, aber irgendwie bin ich nicht halb so crazy wie meine Nachbarn. TIMO BERGER
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