: Das Wehen der Freiheit
Eine Literatur nach Puschkin und dem Manas: Ein Porträt des kirgisischen Schriftstellers Scherboto Tokombajew
Als der Präsidentenpalast gestürmt wurde, befand sich Scherboto Tokombajew zusammen mit seiner Frau auf dem Flughafen in London. Er checkte stündlich das Internet, versuchte vergeblich, das kirgisische Konsulat zu erreichen, und tauschte mit seinen Freunden in Bischkek die neuesten Informationen aus. „Sie meinten, ich solle bleiben, wo ich bin. In Kirgisien sei es jetzt zu gefährlich.“ Aber weder er noch seine Frau seien in der Lage gewesen zu warten. Also nahmen sie den erstbesten Flieger zurück.
Scherboto Tokombajew ist Schriftsteller, 30 Jahre alt, er lebt und arbeitet in Bischkek. Dort ist er einigermaßen bekannt, doch nicht wegen seiner Gedichte, Erzählungen und Essays, die er im Selbstverlag herausgibt, sondern wegen des „Ranar-Centers“, das er 1999 gründete – ein Selbsthilfezentrum für HIV-infizierte Junkies, die im Gefängnis einsitzen.
Tokombajew hat viele seiner Freunde an die Droge Heroin verloren, und davon erzählen auch seine Geschichten. Prostituierte kommen in ihnen vor und Junkies, die in Hauseingängen herumlungern und sich den letzten Schuss setzen. Themen also, die nichts zu suchen haben in der offiziellen Wirklichkeit Kirgisiens. „So was schreibt man nicht, höre ich immer wieder“, sagt er. Es gebe in seinem Land nur eine Literatur, die blüht: die Auftragsliteratur. Dabei handelt es sich um Biografien und Dokumentationen, die zu Reichtum Gekommene bei Journalisten in Auftrag geben. Eine andere, unkonventionelle Literatur suche man vergebens: Es gebe kaum junge Leute, die anders schreiben wollten als der große Tschingis Aitmatow, so Tokombajew.
Vielleicht, sagt Tokombajew mit einer gewissen Portion Ironie, ist diese Ambitionslosigkeit typisch „asiatisch“. Doch vieles liege an einem Schulsystem, in dem die Literaturgeschichte unterbelichtet bleibt. „Wir sind bei Puschkin stehen geblieben.“ Auch das Verständnis des Manas sei oberflächlich, Etikette.
Sein Großvater Aaly Tokombajew, ebenfalls ein Schriftsteller, der mit seinen Werken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Kirgisische in den Rang einer Literatursprache hob, konnte noch Fragmente dieses in oraler Tradition weitergegebenen Volksepos aufsagen. Noch im hohen Alter zettelte er so manche Kontroverse um die richtige Fassung in sowjetischen Literaturgazetten an, die das Endloswerk – es ist 18-mal länger als die „Ilias“ und die „Odyssee“ zusammen – eher stiefmütterlich behandelten.
Mit der staatlichen Unabhängigkeit machte der gestürzte Präsident Askar Akajew das Epos schließlich zum kulturpolitischen Aushängeschild seines Landes. Seitdem findet sich der Name Manas auf Streichholzschachteln und Plakaten; doch Gehaltvolles, so Tokombajew, könne niemand von den Schülern zur Geschichte und dem Inhalt des Epos sagen.
Er muss es wissen: Neben seiner Tätigkeit im Ranar-Center arbeitet Tokombajew ab und zu als Lehrer, er hält Literatur-Vorlesungen an Bischkeker Bildungseinrichtungen, und manchmal fährt er ins Ausland, wie vor drei Jahren zu dem Kunst- und Kulturprojekt „Abseits der Seidenstraße“ des Berliner Hauses der Kulturen der Welt. Dort war er mit seinem kasachischen Dichterkollegen aus Almaty eingeladen, Didar Amantai, als einer der hoffnungsvollen, jungen Schriftsteller Zentralasiens.
„Schlafender Bison“ heißt der Text, der die Erfahrungen seines Besuchs in Deutschland verarbeitet. Die Berliner Mauer gibt hier Anlass zu einer allgemeineren Meditation über die Trennungen und Grenzziehungen zwischen den Menschen, der Traum und das Bewusstsein werden demgegenüber als in jeder Hinsicht grenzüberschreitende Größen vorgestellt. Es ist ein assoziativer Fließtext, dem seine Entstehungssituation sehr genau abzulesen ist. Das gilt für die meisten Arbeiten Tokombajews: Fast immer schreibt in ihnen ein Ich, das sich seiner selbst vergewissert und sich positioniert, ein Subjekt, dass sich schützend in den Mantel der eigenen Gedanken und Assoziationen hüllt.
Nun hofft Tokombajew darauf, dass die Beseitigung des Akajew-Clans neue kulturelle Energien freisetzt. „Das Vakuum, das in den letzten Jahren das Leben in unserem Land bestimmte, hat sich gefüllt“, sagt er. Wie ein Revolutionsdichter vergleicht er dabei die Ereignisse in Bischkek mit der Naturkraft einer „ozeanischen Welle“. Ist eine neue kirgisische Literatur nun möglich? Ein neuer, kollektiver Drang zum Schreiben? „Das Wehen der Freiheit, das zu spüren ist, könnte neue Schaffenshorizonte öffnen.“ MATTHIAS ECHTERHAGEN
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