: Plözlich wurden Bücher interessant
BUCHLADEN Selma Jabbes, Inhaberin der Buch- handlung al-Kitab in Tunis, über das Erstarken des Buchs nach der Revolution
AUFGEZEICHNET VON ANTJE BAUER
Meine Mutter hat diese Buchhandlung 1967 gegründet. Mit fünf Jahren habe ich unten auf den Stufen gesessen und die Comicsammlungen gelesen. Seit 1988 bin ich jetzt hier, und mir macht es großen Spaß. Unter Ben Ali war es frustrierend, denn man hatte fortwährend Angst vor der Zensur.
Wir haben unseren Job ordentlich gemacht, die Zensoren hatten ihren. Es gab zwar keine Geldstrafen, aber manchmal wurden Bücher beschlagnahmt. Wir mussten unsere Bestelllisten bei einer Kommission im Innenministerium vorlegen. Die Zensoren reagierten auf Schlüsselbegriffe wie etwa Islam, Tunesien, Ben Ali, Freiheit und islamistische Bücher. Die Revolution war für mich wie ein Traum.
Am 14. Januar um 17 Uhr hat Ben Ali das Flugzeug genommen, gegen Mitternacht habe ich mich an den Computer gesetzt und meine Bestellungen aufgegeben. Am Tag danach wurde die Zensur für die Zeitungen aufgehoben, aber die Bücher hat man vergessen. Da haben wir das Schaufenster mit allen verbotenen Büchern vollgestellt, die wir bei uns oder bei Freunden auftreiben konnten. Wir haben sogar aus dem Internet die Umschläge von Büchern ausgedruckt, die wir nicht hatten, und sie als Buchattrappen ins Fenster gestellt, um zu zeigen, welche Werke verboten waren. Und wir haben einen Aufruf in Umlauf gebracht, in dem wir die Aufhebung der Zensur für Bücher forderten.
Innerhalb eines Tages 3.000 Unterschriften
Wir hatten den Vorteil, dass die Buchhandlung mitten im Stadtzentrum liegt. Die Leute haben Schlange gestanden, um zu unterschreiben, das war unglaublich. Innerhalb eines Tages hatten wir 3.000 Unterschriften für unsere Petition. Am selben Abend wurde in den Nachrichten die Aufhebung der Zensur für Bücher bekannt gegeben.
Nach der Revolution hatte man den Eindruck, dass die Öffentlichkeit aufgewacht ist. Während der Diktatur interessierten sich die jungen Leute für gar nichts mehr. Auf einmal haben sie sich frei gefühlt, es wurden plötzlich Bücher über Philosophie, Soziologie und die jüngere Geschichte Tunesiens gekauft.
Jetzt führen wir viele Bücher über den Islam, denn viele Leute haben das Bedürfnis, den Koran für sich neu zu entdecken. Jetzt gibt es die Polarisierung zwischen Laizismus und Islamismus. Ich finde diese Debatte unglücklich, denn dadurch wird der Eindruck erweckt, es gebe Muslime und Nichtmuslime. Dabei sind wir zu 98 Prozent Muslime hier in Tunesien. Ich finde, über dieses Thema wird zu viel gesprochen. Die Revolution haben wir gemacht für Würde, Arbeit und Freiheit, nicht wegen religiöser Fragen.
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