: Staaten als schwarze Löcher
Die UNO legt ihren Bericht zur Lage in der arabischen Welt 2004 vor. Danach sind Reformansätze bisher kein ernsthafter Versuch, die Repression zu beenden. Die Stagnation gilt vor allem als hausgemacht, doch der Westen als mitschuldig
AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY
Die Autoren des neuen UN-Berichtes zur „Entwicklung in der arabischen Welt“, der heute in Berlin vorgestellt wird, haben diesmal nach den Sternen gegriffen. „Der moderne arabische Staat folgt im politischen Sinne einem astronomischen Modell, in dem die Exekutive ein schwarzes Loch darstellt, das seine soziale Umgebung in einen Zustand versetzt, in dem sich nichts bewegt und aus dem es kein Entrinnen gibt“, heißt es dort. Den Bericht hat ein arabisches Autorenkollektiv erstellt, das im dritten Jahr in Folge versucht, das kollektive politische und gesellschaftliche Desaster der arabischen Welt in Worte zu fassen.
Anders als in den letzten beiden Berichten, die von der US-Regierung häufig als Rechtfertigung für ihre Intervention im Namen der Demokratisierung zitiert wurden, sparen die Autoren in ihrer 265-seitigen Untersuchung diesmal nicht mit Kritik an Washington. Einer der Gründe, warum sich die für Oktober letzten Jahres vom UN-Entwicklungsprogramm UNDP geplante Veröffentlichung verzögert hatte, war der Versuch einiger arabischer Regierungen, den Bericht abzuschwächen, wie UNDP-Mitarbeiter unter der Hand zugeben. Auch die US-Regierung soll Druck ausgeübt haben, bestimme Passagen über den Irak umzuschreiben. Nun heißt es sicherheitshalber gleich auf der ersten Seite, dass die Ansichten des Berichtes das Ergebnis des Autorenteams seien und nicht notwendigerweise die Meinung der UNDP wiedergäben.
Im Vergleich zu den Vorjahren spricht der Bericht von keinen signifikanten Verbesserungen bei der arabischen Entwicklungskrise. Reformversuche seien bisher nur bruchstückhaft. Einiges neu Erreichte sei zwar vielversprechend, aber zusammengenommen ergäben die Reformen keinen ernsthaften Versuch, das Klima der Repression zu beenden.
Der Grund für die politische und gesellschaftliche Stagnation sei vor allem hausgemacht. Das Autorenteam benennt allerdings auch externe politische Faktoren. „Die fortdauernde israelische Besatzung palästinensischer Gebiete, die US-geführte Besatzung des Irak und die Eskalation des Terrors haben die Entwicklung in der arabischen Welt zusätzlich negativ beeinflusst“, meinen sie. Auch die US-Vetos gegenüber UN-Resolutionen zu Israel hätten dazu geführt, dass viele Menschen in der Region ihre Hoffnung auf globale Gerechtigkeit aufgegeben haben.
Der ägyptische Chefautor Nader Fergani gibt im Interview dem Westen noch deutlicher eine Mitschuld an der arabischen Misere: „Es gibt einen offenen Widerspruch zwischen dem, was die US-Regierung behauptet, und dem, was sie wirklich tut. Denn im Grunde will die US-Regierung keine gut funktionierenden arabischen demokratischen Systeme.“ Diese würden den US-Zielen im Nahen Osten wenig nützen, sondern sie im Gegenteil behindern, erklärte er vor der Veröffentlichung des Berichtes.
Doch Selbstkritik fehlt nicht. Zu oft, moniert der Bericht, würden in der Verfassung theoretisch verbriefte Rechte durch die Ausrufung eines Ausnahmezustandes hinfällig. Ein unabhängiges Gerichtswesen werde oft durch Militär- und Sondergerichte ausgehebelt.
Präsidentschaftswahlen hätten nur den Charakter von Referenden über einen einzigen Kandidaten. Außer in Saudi-Arabien und den Arabischen Emiraten gebe es zwar auf dem Papier Volksvertretungen. Doch die politische Beteiligung sei oft oft zum Ritual verkommen. In den meisten arabischen Parlamenten sei die Wählerschaft nicht wirklich repräsentiert und die Opposition schwach. Die Folge: Wahlen leiten keinen friedlichen politischen Wechsel ein, sondern reproduzieren die herrschenden Eliten. Doch der Bericht geht auch auf die tiefer liegenden gesellschaftlichen Probleme ein.
„Von Kind auf, bei der Erziehung in der Familie, beim Durchlaufen der Bildungseinrichtungen, der gesellschaftlichen Formation und schließlich der Politik – ob international oder zu Hause –, jedes Glied nimmt dem Individuum eine Portion Freiheit und übergibt es dem nächsten Glied, das sich wiederum ein Stück nimmt“, beschreibt der Report den hoffnungslosen arabischen Lebenszyklus vom diktatorischen Familienchef zu Bildungseinrichtungen, die nur Auswendiglernen und kein kritisches Denken fördern, bis hin zum Ausschluss von jeglichen politischen Entscheidungen.
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