Die vielen Leben des Jean-Paul Sartre: Ein Wegbereiter für „Big Brother“
Der französische Existenzialismus bildete nach dem Zweiten Weltkrieg das erste Exempel dessen, was man später Subkultur nannte. Sartre (und Beauvoir) funktionierten als Role Models. Es gab richtige Modezeichen (damals als Begriff ganz unbekannt): der schwarze Rollkragenpullover, der Pferdeschwanz, Gauloises und/oder Gitanes als Pflichtzigaretten, Jazz im Keller (viel Geld konnte noch niemand auf seinen Lifestyle verwenden, ebenfalls ein unbekanntes Wort). Dann kamen die Popmusik und die politische Protestkultur und vertrieb den Existenzialismus.
Klar, den Existenzialismus als intellektuelle Mode löste die Frankfurter Schule, die kritische Soziologie, ab. Das emphatische Individuum Sartres, das zur Freiheit verurteilt ist, das wählen muss, vor allem sich selbst, ersetzten gesellschaftliche Verhältnisse und ihre Widersprüche, der Schuld- und Verblendungszusammenhang einer entfremdeten Kollektivität. Hier herrschte kategorisch Unfreiheit; hier gab es nichts zu wählen – schlimmer: Was wie eine freie Wahl ausschaute, führte nur tiefer und unwiderruflicher in die Unfreiheit hinein.
Anderseits: Wer konnte diese unauflöslichen, zugleich blickdicht verhüllten Zusammenhänge erkennen? Die Arbeiterklasse, wie Marx sie konzipierte, war doch längst in das unwahre Ganze integriert; keinerlei Hoffnung mehr, dass sie als Avantgarde einer künftigen befreiten Menschheit die falsche Gesellschaft sprengen würde (was avancierte Intellektuelle durch ihre Lehren fördern könnten).
Richtig, im Grunde blieb als Träger eines kritischen Bewusstseins, das den Verhältnissen widersteht – und sei’s bloß durch ihre Erkenntnis – einzig Sartres Individuum übrig, das heroisch isolierte Subjekt. Nicht der integrierte Proletarier, schon gar nicht der Bürger, der von den Verhältnissen profitiert, erkennt sich in dem zum Sprichwort gewordenen Satz: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Sartres Subjekt war nötig, um diesen Satz zu verstehen und auf sich selbst zu applizieren. Die Gesellschaft und ihre Erkenntnis, lehrte Adorno, beginnt dort, wo es wehtut – in der Existenz.
Diese Fusion von Existenzialismus und Kritischer Theorie kulminierte in der RAF – die Adorno nicht mehr erleben musste. Was gegenwärtig mal wieder an ihr fasziniert, sind doch nicht ihre „Ideale“, wie die Kuratoren der Berliner Ausstellung in den KunstWerken zunächst auf das Ungeschickteste behaupteten. Was an der RAF mit ihrem Schrecken die Republik in Bann schlug, war der bewaffnete Kampf; keinen Augenblick konnte irgendwer im Zweifel sein, dass er durch kein vernünftiges Argument zu rechtfertigen war und dass sie ihn verlieren würden – aber das war angesichts ihrer irreversiblen Wahl gleichgültig. Dass der Bundeskanzler Schmidt auf dieser Ebene einstieg und ohne jeden Kompromiss durchhielt, bis er gewonnen hatte, trug gewiss viel zu seinem Renommee bei.
Heutzutage ist die Idee des bewaffneten Kampfs ohne Reiz (ohne Vernunft war sie immer). Gleichwohl, man kann nicht behaupten, Sartres Konstruktion des Daseins liege auf dem Kehrichthaufen der Geschichte. Im Gegenteil, es kommt mir so vor, als habe die Intensität des Lebens, die Sartre einzig in der Rebellion erkannte, sich ungeheuer verbreitet. Eine Überzeugung, die in den Mittelklassen grassiert, dass wir jeden Tag durch unsere Wahlen die Natur, den Planeten gefährden, verdankt sich dem Existenzialismus; dasselbe gilt für die political correctness, die jeden Sprechakt, jede Wortwahl als Entscheidung für Freiheit oder Unterdrückung auffasst. Aber auch Veranstaltungen wie die Superstarwettbewerbe oder „Big Brother“, Vergnügungen der lower classes, folgen doch offensichtlich existenzialistischen Konzepten. Andauernd ist die Gesellschaft auf das Lebhafteste sich selbst präsent; nichts ist so wenig angesagt wie Halbschlaf, Schicksalsergebenheit und Fatalismus.
So hätte wieder einmal, was zunächst nur eine intellektuelle Avantgarde beschäftigte, sich tief in der Gesellschaft ausgebreitet, sogar über Klassengrenzen hinweg. Erfunden aber hat es Jean-Paul Sartre.
MICHAEL RUTSCHKY
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen