: Im Lande Heimatlos
AUS BERLIN JÖRG ALBINSKY
Ein guter Tag, um an die Luft zu gehen. Salman Schmulowitsch streift seine Wollmütze über das graue Haar, greift nach dem Gehstock und macht sich auf den Weg. Draußen wartet der Frühling. Mit kleinen Schritten durchquert er die Sicherheitsschleuse, vorbei am Durchleuchtungsgerät und dem Tisch für die Taschenkontrolle, zum Ausgang des Altenheims. Der Mann vom Sicherheitsdienst drückt den Summer für die Außentür, und während Schmulowitsch im Vorgarten auf eine Parkbank zusteuert, erscheint er zugleich auf dem Monitor einer Überwachungskamera.
„Ist das nicht absurd?“ Schmulowitsch lehnt den Stock an die Bank und setzt sich. „Werden wir hier beschützt oder bewacht?“ Einen Moment lang sind nur die Vögel zu hören. Dann muss er lachen, schallend wie jemand, der die Welt komplett verrückt findet. Es ist absurd. Schmulowitsch hat diese Stadt befreit, in einem Krieg, den er nicht wollte, gegen ein Land, das er nicht kannte. Und nun muss Berlin, ausgerechnet Berlin sein Altenheim schützen wie ein Ministerium. Denn es es ein jüdisches Heim, Schmulowitsch ist Jude, russischer Jude.
Der alte Mann hat den Kopf in die Sonne gedreht. Wie ein Patriarch sitzt er auf der Bank, aufrecht, würdevoll. Man sieht, dass er nicht von hier ist. Vielleicht würde er steif wirken, wären da nicht die wachen Augen und das feine Lächeln. Nur wenige leben noch, die wie er den Krieg von Beginn an mitmachen mussten – von Moskau bis Berlin. Als russischer Soldat hat er diese Stadt erkämpft, Straße für Straße. Er ist geduckt über die Schuttberge geklettert, hat in die Fensterhöhlen geschossen, um nicht selbst getroffen zu werden. Er hat den Wahnsinn überlebt, irgendwie, bis es hieß, sie seien die Sieger. Da hatte Schmulowitsch längst verloren.
Er sitzt auf der Bank in Charlottenburg und wehrt jede Zuordnung ab. „Ich bin nicht Russe oder Jude“, sagt er bestimmt. „Ich habe keine Heimat. Ich bin Internationalist.“ Es klingt bei ihm, als wäre das eine Gegend. Schmulowitsch will nicht mehr. Er will keinem Land mehr gehören, keinem Volk und schon gar nicht einer Ideologie. Berlin ist nur ein Ort seiner Biografie, sagt er. Nicht mehr und nicht weniger. Einer, wo es ihm wenigstens gut geht.
Dabei war Schmulowitsch mal ein Junge mit einem Zuhause, ein Kind, das wusste, was richtig und was falsch ist, ein junger Mann, der Gewissheiten hatte im Leben. Das war damals in Kajinsk. „Da war die Welt zwar nicht besser“, sagt er. „Aber sie hatte Bahnen. Es war klar, wer du warst und woher du kommst.“
Kajinsk, das sind Bäume, endlose Wälder in alle Richtungen. In der sibirischen Kleinstadt wächst Salman als zweites von fünf Kindern auf. Die Mutter kümmert sich ums Vieh, der Vater schlägt sich als Schneider durch. Denn die Familie besitzt ein Juwel – eine echte Singer-Nähmaschine, die der gebürtige Rigaer im Ersten Weltkrieg als Einziges aus Lettland mit nach Sibirien retten konnte. Tag und Nacht rattert die Nadel durch Felle, aus denen der Vater lange Wintermäntel und Pelzmützen näht. Eine wunderbare Maschine. „Das hat zum Leben gerade so gereicht“, sagt Schmulowitsch, „aber was brauchst du schon in Kajinsk?“
Geld. Auch in Kajinsk braucht man Geld, denn die Eltern wollen den Kindern Bildung ermöglichen. Doch es kommt anders. 1934 lässt Stalin im fernen Moskau heimlich den Genossen Kuibyschew beseitigen, offiziell freilich erweist er ihm alle Ehren. Da passt es gut, dass der Kommunist unter dem Zaren mal zwei Jahre in Kajinsk in Verbannung saß. Also wird das Provinzkaff – wie auch die Stadt Samara an der Wolga – in Kuibyschew umbenannt – und ebenfalls vorsorglich gesäubert. Salman ist im letzten Jahr auf dem Gymnasium, als Beamte eines Tages in der Tür stehen und die Singer beschlagnahmen wollen.
Für die Familie steht alles auf dem Spiel. Der Vater kämpft mit jedem Mittel und erreicht wenigstens, dass seine nunmehr verstaatlichte Nähmaschine gegen eine monatliche Miete im Haus bleiben darf. Finanziell aber ist es nun so eng, dass Salman in die Buchhalter-Lehre muss. An das Studium in Nowosibirsk, wovon er träumt, ist nicht mehr zu denken. Und auch der Glaube geht in die innere Emigration. „Jiddisch wurde schon länger nicht mehr gesprochen. Meine Eltern hatten zu viel Angst.“
Das alte Kajinsk gerät in den sowjetischen Strom aus Angst, Misstrauen und Verrat. Und dann bricht der Krieg los. „Ich war nie politisch“, sagt Schmulowitsch, und schon gar kein Patriot. Ich wollte nicht kämpfen. Weder für Russland noch für sonst wen.“ Eine Wahl hat er nicht. Im Herbst 41 fährt der Zug mit dem 20-Jährigen zur Frontlinie bei Moskau. Zehn Jahre wird er Kajinsk nicht wiedersehen.
„Ich habe mich immer für einen emotionalen Menschen gehalten“, sagt Schmulowitsch. „Nach der Winterschlacht bei Moskau war das vorbei. Da war nur noch Stumpfheit.“ Seine Stimme ist jetzt leiser geworden. Er hat seit Jahren nicht darüber gesprochen. Vielleicht wollte es niemand hören, vielleicht konnte er nicht reden. Auf der Bank sitzt ein Mann, der sichtlich Angst hat vor den Bildern, die die Erinnerung hochspült. Kalt war es, sagt er. Manchmal minus 30 Grad. Tagelang stehen sie der deutschen Armee bewegungslos gegenüber. Die Gegner bleiben unsichtbar. Manchmal sieht Schmulowitsch Silhouetten zu Boden gehen. Der Feind hat noch kein Gesicht. Sichtbar sterben nur die eigenen Leute.
Der Fußsoldat aus dem fernen Kajinsk hat Angst vor den Gefechtspausen. Das Warten ist das Unerträglichste, sagt Schmulowitsch. Wenn du nichts tun kannst. „Und dann trifft es plötzlich jemanden neben dir und du schießt, du schießt.“ Schmulowitsch hält seinen Gehstock wie ein Gewehr mit beiden Händen. Er schießt damit, er ist wieder dort, vor Moskau. Salman Schmulowitsch schwenkt den Stock, einmal und noch einmal, sein Atem geht flacher. Dann legt er ihn langsam neben sich und starrt vor sich hin. „Ich kann das nicht beschreiben“, sagt er nach einer Weile. „Die Schreie.“ Und er hält sich mit der Hand den Mund zu.
Am 18. August kommt er ins Hospital, und dann noch einmal am 8. März. Die Jahre sind zu einer ort- und zeitlosen Masse verschmolzen. Er kann sich nicht erinnern, nur die Tage hat er behalten. Einmal erwischt es das Knie. Ein andermal bleibt eine Kugel stecken, zwei Zentimeter neben dem Herzen. In den 60er-Jahren hat Schmulowitsch das Projektil auf einem Röntgenbild gesehen. Es steckt noch.
Irgendwann steht Unteroffizier Schmulowitsch mit seinem Regiment an der Oder. Er hat schon drei Orden bekommen. Zwei weitere liegen noch vor ihm, der „Orden für den Vaterländischen Krieg 1. Stufe“ und die „Medaille für den Sieg über Deutschland“. Von diesem Stück Blech trennen ihn jetzt nur noch wenige Wochen, in denen noch einmal 500.000 russische Soldaten sterben werden. Vor ihnen liegen die Seelower Höhen und dahinter, im märkischen Sand, Berlin. „Der Sturm auf Berlin hat nicht lange gedauert“, sagt er. „Aber was heißt das schon. Jeder Tag will dich umbringen, auch der letzte im Krieg.“
Die Stadt ist ein Trümmerfeld, voller Rauch und Schutt, ein lebensgefährlicher Dschungel. Er weiß, was ihn im Häuserkampf erwartet, er hat Warschau hinter sich. Er schießt sich durch die Straßen. Dann hat er die Rufe eines Mädchens im Ohr. „Sie hat nach ihrer Mutter gerufen, immer wieder. Ich hab sie nicht gesehen, die Stimme kam aus einem Kellerfenster.“
Schmulowitsch weint. Die Tränen sind von unten gekommen. Er weint nicht – es weint ihn, ganz still. Hat er die Deutschen gehasst? Natürlich hast du Zorn, sagt er. Aber es geht nicht um Deutscher gegen Russe. „Er ist ein Mensch und du bist ein Mensch, zwei, die sich gegenseitig töten wollen. Vielleicht überlebt einer. Darum geht es.“ Schmulowitsch überlebt. Als es vorbei ist im Mai, steigt er in einen Viehwaggon und fährt zurück nach Russland, nach Moskau, wo eine Frau auf ihn wartet. Er fühlt wenig, er ist stumpf.
Eine volle russische Frau, nennt sie Schmulowitsch. Sie ist korpulent, sie ist das Beste, was ihm jemals passiert ist. Er macht noch einmal eine Lehre zum Schuhmacher, qualifiziert sich zum Meister. Doch das Glück hält nicht vor. Seine Frau stirbt nach der Geburt des zweiten Kindes. Auch das wird er überstehen. Er lebt in Moskau, zieht die Kinder allein groß. Sonja, die Tochter, wird später in der DDR arbeiten. Auch der Sohn zieht nach Deutschland, und als Schmulowitsch in Rente geht, hält ihn nichts mehr in Moskau. Zum zweiten Mal in seinem Leben geht er nach Berlin – da sind wenigstens die Kinder.
„Der Mensch hat ein Recht auf Fehler“, sagt er. „Aber das Recht auf Leben hat Gott niemandem abgetreten.“ Er sagt oft solche Sätze. Sie sind fertig in seinem Kopf, und wenn er sie ausspricht, geben sie ihm Kraft. Schmulowitsch sitzt wieder aufrecht auf der Bank. Vorm Zaun gehen zwei Polizisten vorbei. Nein, sagt Schmulowitsch, er wolle nicht richten. Er wolle niemandem die Schuld geben, an seinem Leben oder am Krieg.
Es ist jetzt richtig warm. Er dreht sein kantiges Gesicht in die Sonne. Hier lebt er jetzt also, Salman Aronowitsch Schmulowitsch, nach 84 Jahren Leben. In seinem Zimmer, oben im fünften Stock, steht eine Couch, ein Sessel, das Bett ist hinter einem Vorhang. Die Regale sind leer, kein Bild an der Wand – als wäre er nur zu Besuch.
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