: Eine kurze Kulturgeschichte
Schon in den 50er-Jahren wurde Kreuzbergs Ruf als „Kunstwiege“ gegründet. 1964 registrierte Ingeborg Bachmann, der Bezirk sei „im Kommen“. Seitdem ist dort noch vieles gegangen
VON HELMUT HÖGE
Man sagt, Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell begründeten den Ruf Kreuzbergs als „Kunstwiege“: Erst in einigen kaputten, aber gut geheizten Kneipen und dann ab 1959 mit der Galerie „Zinke“ in der Oranienstraße, wo unter anderem Kurt Mühlenhaupt, Johannes Schenk und Günter Grass dazu stießen. Diese „Kreuzberger Nachkriegsboheme“ wurde vor allem inspiriert von Oskar Huth, dem die Amerikaner 1946 erst die „Evidence of Anti-Nazi-Activities“ bescheinigten und dann eine Stelle im Kultursenat antrugen. Der Klavierstimmer und -spieler zog es jedoch vor, „freischaffender Kunsttrinker“ zu bleiben. Bereits 1964 baute R. W. Schnell die Huth’schen Auftritte und Monologe in seine „Ballade aus Kreuzberg“ ein.
Im selben Jahr registrierte Ingeborg Bachmann, dass Kreuzberg „im Kommen“ sei. In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises sagte sie: „Die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. Dazu muss man sich die Haare lang wachsen lassen, muss herumziehen, muss herumschreien, muss predigen, muss betrunken sein und die alten Leute verschrecken … Man muss immer allein und zu vielen sein, mehrere mitziehen, von einem Glauben zum andern. Die neue Religion kommt aus Kreuzberg, die Evangelienbärte und die Befehle, die Revolte gegen die subventionierte Agonie. Es müssen alle aus dem gleichen Blechgeschirr essen, eine ganz dünne Berliner Brühe, dazu dunkles Brot, danach wird der schärfste Schnaps befohlen, und immer mehr Schnaps, für die längsten Nächte. Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist, die Kleine Weltlaterne zahlt sich schon aus, die Prediger und die Jünger lassen sich bestaunen am Abend und spucken den Neugierigen auf die Currywurst … An einem Haustor, irgendeinem, wird gerüttelt, ein Laternenpfahl umgestürzt, einigen Vorübergehenden über die Köpfe gehauen … Nach Mitternacht sind alle Bars überfüllt.“
Zehn Jahre später wurde daraus ein Schunkellied der Gebrüder Blattschuss: „Kreuzberger Nächte sind lang“. Die Europa-Korrespondentin des New Yorker schrieb dann – wieder zehn Jahre später: „Früher war Kreuzberg düster und schmutzig. Dann aber war es düster und schmutzig – und hatte Flair.“ Zu einem ähnlichen Befund kam dann die Spiegel-Autorin Marie-Luise Scherer in einem Artikel über die dortige autonome Szene: „Eine Frau darf hier scharf aussehen, den Pelz einer geschützten Tierart tragen und Gold auf den Lidern, wenn ihr darüber nicht das irisierende Moment von Sperrmüll abhanden kommt.“
Aus solchen und ähnlichen medialen Mätzchen (Recherchen) wurde spätestens nach den Straßenschlachten am 1. Mai 1987 – als das Viertel für einige Stunden „bullenfrei“ gekämpft war – der „Mythos Kreuzberg“, der nach Meinung seiner letzten Ethnografin Barbara Lang schließlich pars pro toto für Westberlin stand – und dann 1990 endgültig fiel. Das Tape mit der nächtlichen Trommelmusik vom 1. Mai 1987 – „Hönkel“ genannt – erwarb die Schaubühne, als Soundkulisse für ein Ku’damm-Brecht-Stück. Einen Monat später riegelte umgekehrt die Polizei – anlässlich des Reagan-Besuchs – das ganze Viertel für einige Stunden hermetisch ab, was dann wiederum dem „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ Anlass für eine Reihe humoriger Gegensperrmaßnahmen war. 1989 legte der Innensenator fest, dass die polizeilichen Einsatzabläufe zukünftig zwar direkt gefilmt und übertragen werden durften, „aber nur in Form von Totalaufnahmen“. Zehn Jahre später ermahnte die Demoleitung erstmals selbst alle Bildberichterstatter, „sich auf die Totale zu beschränken“.
Zwischen dieser ganzen über 50 Jahre andauernden Kreuzberg-Reklame und -Randale steht die Eroberung des leer stehenden Bethanien-Krankenhauses 1972 durch die Linke und ihre lokale Basis. Der „Kampf um Bethanien“ fiel in eine Zeit, in der sich Kreuzbergs Bevölkerung, die sich nach dem Bau der Mauer zunächst stark reduziert hatte, noch einmal wandelte: Einerseits wurden die seit 1961 leer stehenden großen Wohnungen in Wilmersdorf und Charlottenburg, die von vielen linken Studenten bewohnt wurden, langsam wieder von ihren Besitzern mit Beschlag belegt, sodass die Szene sich nach Schöneberg und Kreuzberg verlagerte, andererseits zogen auch immer mehr türkische Gastarbeiter, die bis dahin in Wohnheimen untergekommen waren, in diese Bezirke. Während gleichzeitig die Bezirksverwaltungen dort immer mehr alte Wohnsubstanz aufgaben und für großflächige Neubebauungen, verbunden sogar mit einer Stadtautobahn, votierten.
So wollte die „Baulöwin“ Sigrid Kressmann-Zschach zum Beispiel anstelle des leer stehenden Bethanien-Komplexes ein modernes Wohn- und Shoppingcenter errichten, die Denkmalschützer konnten den Abriss jedoch verhindern. Aber schon tauchten neue Projektmacher auf – die auch sofort zur Tat schritten: Eine Gruppe, bestehend aus damals besonders unruhigen Lehrlingen und Heimkindern, rief während eines Teach-ins im Audimax der TU Berlin, auf dem die Kreuzberger Band „Ton Steine Scherben“ („Macht kaputt, was euch kaputt macht“) spielten, zur Besetzung des leer stehenden Bethanien-Krankenhauses auf. Das heißt: erst einmal zur Besetzung des Lehrschwesternhauses neben dem Hauptgebäude, das sie nach dem vier Tage zuvor von der Polizei erschossenen Mitglied der „Bewegung 2. Juni“, Georg von Rauch, benannten – es heißt bis heute so.
Darüber hinaus hatten auch andere Gruppen – etwa Künstler, Eltern auf der Suche nach einem Kinderladen, eine Musikschule-Initiative, die KPD/AO, verschiedene Bezirksbehörden – einen großen Raumbedarf. Es kam zu erbitterten Auseinandersetzungen unter ihnen, wobei oft auch die Polizei mitmischte. Schließlich kamen aber alle irgendwie legal dort unter – und vertrugen sich mit der Zeit. Dazu trugen die langsamen Veränderungen im „Umfeld Bethanien“, wie später eine Ausstellung dort hieß, ebenso bei wie die der Kunstszene selbst. Beide neigten zunehmend zum Pragmatisch-Experimentellen. So zogen etwa einige Künstler ins Rauchhaus, Rauchhausbewohner versteckten sich vor der Polizei im Künstlerhaus, und mit den Grünen entwickelte sich sogar (wieder) ein staatsintegratives Soziotop, das dazu alternatives Kleingewerbe und überhaupt marktwirtschaftliches Denken begünstigte.
Erinnert sei an die „Neuen Wilden“ und ihre Galerie am Moritzplatz, über die der Maler Lüpertz abschließend urteilte: „Wir erst haben Berlin an den Weltkunstmarkt angeschlossen!“ Oder die Modemacherin Claudia Skoda, die 1979 meinte: „Kreuzberg ist unerhört vielfältig“, aber gleich nach dem Mauerfall als wendige „Lifestylistin“ dem Stadtmagazin Tip gestand: „Nie wieder Kreuzberg!“ Sie zog dann ab nach Mitte, wo auch Klaus Landowsky sofort „die interessante Szene“ ausmachte, während in Kreuzberg seiner Meinung nach nur „Junkies, Gewalt und Ausländer zurückblieben“.
Bereits Ende der Siebzigerjahre hatte sich die „Politisierung“ der Studenten derart auf einige Aspekte des Alltags – nämlich der „behutsamen Stadterneuerung unter ökologischem Vorzeichen“ – beschränkt, dass sie in Kreuzberg mit den Türken aneinander gerieten. In diesen sahen sie bald nur noch „Stoßtrupps der Hausbesitzer“ – zum endgültigen Herunterwohnen der letzten Altbausubstanz. 1980 schrieb das Stadtmagazin Zitty: „In einem Türkenghetto entscheiden nur noch Justiz und Polizei …Türken raus? Warum nicht. Zumindest einige. Es sei denn, man will den Stadtteil sterben lassen.“ Viele Türken ließen nach und nach ihre Familien nachkommen, was die Kreuzberger Bezirksregierung mehrmals mit „Zuzugssperren“ zu verhindern suchte.
Die linken türkischen Organisationen hatten ihren proletarischen Anhängern im Ausland zunächst geraten, sich politisch auf ihre Rückkehr in die Heimat zu konzentrieren. Nach einigen Jahren gingen aber auch sie von einer permanenten Diaspora aus, wo man unter anderem für Arbeitnehmer- und Mieterrechte kämpfen muss. Bald gab es in fast allen größeren Westberliner Fabriken türkische Betriebsräte, und die leer stehenden Souterrainräume im Viertel wurden von türkischen Arbeitervereinen genutzt. Einen – mit Lenin-Schulung – gibt es im „Mehringhof“ noch heute. Und in der IG Metall hält sich die Meinung: „Die besten türkischen Betriebsräte waren früher alle kurdische Maoisten!“ Inzwischen gibt es allerdings kaum noch türkische Arbeiter: Viele Westberliner Betriebe wurden dichtgemacht, und die restlichen stellten seit 1990 vor allem überqualifizierte Ostberliner ein. Dies zwingt immer mehr Türken, sich selbstständig zu machen: Inzwischen tragen sie schon fast die gesamte Kreuzberger Ökonomie; die streng gläubigen unter ihnen planen daneben eine Moschee nach der anderen.
1981 besetzte eine Frauengruppe die alte Schokoladenfabrik am Heinrichplatz (etwa die 170. Hausbesetzung): Neben einem türkischen Frauenbad (Hamam) entstand dort ein „Treffpunkt, Bildung und Beratung für Frauen und Mädchen aus der Türkei“.
In den Achtzigerjahren tat sich noch einmal eine Kluft auf – zwischen Künstlern und „Streetfightern“ (Autonomen): Letztere versuchten, teilweise erfolgreich, einige „Schickimicki-Lokale“ im „Problembezirk“ mit Scheiße „wegzukübeln“, und zerstörten mehrere Kunstobjekte und Ausstellungen. Für diese „Kiezmiliz“ waren nicht mehr die Türken die Speerspitze der spekulativen „Gentryfication“, sondern die Künstler.
Während die Türken mit ihren „Kulturvereinen“ inzwischen nach oben – in Läden – gezogen waren, hatten jedoch ironischerweise immer mehr Künstler ihre Installationsräume und Clubs in Kellern eingerichtet; erwähnt seien die Galerie Eisenbahnstraße, das Endart-Depot, Urbandart und das Fischbüro. Aus dem Keller des Letzteren trat 1989 die Love Parade buchstäblich ans Tageslicht. Ein typischer Dialog am Fischbüro-Tresen ging so: „Machen wir noch eine Bierforschung oder gleich eine Nachhausegehforschung?“ – „Ich muss jetzt erst mal ’ne Dönerforschung machen!“ Der Forschungsbegriff wurde damals von vielen Künstlern derart gestretcht. Ihre Ergebnisse firmierten unter anderem unter dem von Wolfgang Müller kreierten Mervetitel „Geniale Dilettanten“, der ebenso wie Heiner Müller fast zum Stamm des „Panzerkreuzers Bethanien“ gehörte.
Dieser wohnte zuletzt einen Steinwurf entfernt in der Muskauer Straße, wo er von seiner türkischen Theaterkneipe „Le Soleil“ aus den Mariannenplatz und das schlossähnliche Portal des „Künstlerhauses Potemkin“ im Blick hatte, das immer baufälliger wird. Aber es ist kein Geld dafür mehr da, deswegen will man den ganzen Komplex jetzt privatisieren. Auch die Geschichte der Stammkneipe von Heiner Müller in der Muskauer Straße endete übel: Die seit 26 Jahren in Berlin lebende türkische Wirtsfamilie wurde, weil man ihren abwesenden Sohn terroristischer Umtriebe verdächtigte, derart brutal von einem Polizeisonderkommando überfallen, dass sie entsetzt das Lokal aufgaben und in die Türkei zurückzogen. Wie zum Hohn bekamen sie zum Abschied noch die deutsche Staatsbürgerschaft.
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