BEI FRANK CASTORF AN DER VOLKSBÜHNE DARF JEDER MAL DUMM UND BÖSE SEIN: Mal ein Gedanke: Was ist, wenn es Theater gibt und keiner hört zu?
VON ANDREA HANNA HÜNNIGER
Ui, ui, ui. In Frank Castorfs Inszenierung der Bremer Stadtmusikanten am Samstag war wiederholt dem Publikum mitgeteilt worden, dass es auch einmal in Haiti zur Abschlachtung von Weißen, seitens der Schwarzen, gekommen sei. Abschlachtung. O ja. Wie interessant. Wie provokant. Hat’s also auch mal umgedreht gegeben. Waren auch mal die Schwarzen böse gewesen. Warum denn auch nicht. Warum kann nicht auch ein Schwarzer ein dummes Arschloch sein. Huch, habe ich das gerade laut gesagt.
Oh, Frank! In der Volksbühne sind eben immer alle gleich. Wie sehr das ins Herz der finsteren Gegenwart trifft. Ich saß ja noch nie in der ersten Reihe, aber hier hat sich’s wirklich gelohnt. Die Bremer Stadtmusikanten, also da waren Tiere auf der Bühne. SÜSS!!!! Ein schwarzer diabolischer – natürlich Gockel, ein krummes Pferd, Marc Hosemann und ein Hund. Der hat so süß ausgesehen, weil sein Gesicht ganz von Fell zugewachsen war.
Ach-wie-süß-Geräusche
Nicht der Hund, Marc Hosemann natürlich. Das war so lustig, weil die ganze Zeit aus dem Publikum solche Ach-wie-süß-Geräusche kamen, bis dann die Tiere verschwunden waren und überraschend noch Schauspieler auf der Bühne blieben. Die sprachen und keiner hörte ihnen zu. Auch ein guter Gedanke. Vielleicht ein versehentlicher: Was ist, wenn es Theater gibt und keiner hört zu?
Gott, war das wieder lustig. Der Vater küsst die Tochter. Die Tochter nörgelt, die Mama lacht. Und extrem lustig war dann auch diese lustige Anspielung. Das Stück heißt nämlich eigentlich „Die Marquise von O“. Kleist, Leute! Und das Lustige daran ist, dass zwischendurch von der Pappelallee die Rede war, in welcher die Eltern von Frank ein Jalousie-Geschäft hatten. Herr, ist das lustig. So abgefahren. Party-Ersatz. Echt. Lustig. Und sehr berührend.
Ich musste dann aber dringend noch zu einer Beerdigung. Die war schon auch nicht ganz unlustig. Die Trauerrede und das ganze Drumherum haben mich dann ein bisschen an die Volksbühne erinnert. Oder: Ich musste noch sehr lange in der Kirche über die Volksbühne nachdenken. Später wurde sich erzählt, mit welchen letzten Worten mein Großvater abgetreten war.
„Das ist euer Bier“, habe er zuletzt gesagt. Das ist euer Bier. Die letzten vier Worte waren das gewesen. Eine Message musste da noch drunter liegen. Es konnte nicht so sinnlos sein, wie es sich angehört hatte. Was hatte er damit gemeint? Was wollte er seinen Kindern und Enkeln im Leben damit auf den Weg geben? Es ist noch Bier da? Das Leben ist ein Bier? Voll und kalt?
Im kalten Universum
Ich treibe sinnlos durch ein dunkles kaltes Universum. Der Pfarrer sprach über den borstigen und – ach ja – auch für die Partei (SED) so widerständlerischen Mann. Es war schön.
Später erzählte ich einem Freund, wie aus einem SED-Soldaten erster Sahne jetzt ein Kämpfer wird. Da sagte er, dass der Pfarrer absolut recht gehabt hatte. Denn wer in die SED eintrat, zerstörte den Staat ja erst. Die Funktionäre haben den Staat praktisch kaputt gestiefelt. Und das klingt logisch. Also hat die Kirche recht. Ich war sehr beruhigt.
Mein Opa war übrigens ein Widerständler. Dem Herrn sei Dank, dass wir auch noch Juden sind, sonst würde ich mir in dem Land echt bescheuert vorkommen. Was mich auf eine späte Ausgabe von Spiegel-TV am Sonntag erinnert. Da war ein sehr spannender Beitrag über Produkt-Gerüche. Verschiedene Menschen-Gerüche. Es gibt für alles ein Parfum. Auch für Espresso. Oder Sand, der nach Espresso riechen soll. Oder verschiedene Menschen. Den Geruch: arm. Und den Geruch: reich. Wie spannend. Ich weiß.
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