: Ornamente aus Pennern
Welthaltigkeit als Behauptung: Bei den Wiener Festwochen zeigten Produktionen von Johan Simons, Peter Brook sowie des Choreografen Bruno Beltrao die Grenzen eines globalisierten Theaters auf
VON UWE MATTHEISS
Der chronisch wiederkehrende Zweifel, ob das Theater der Welt überhaupt noch etwas zu sagen hat, ob seine angestammten Orte und Apparate noch jene Überschreitung von Alltagserfahrung hervorrufen, die es bislang als privilegierte soziale Praxis legitimiert hat, lässt das Theater immer häufiger seine sieben Requisiten packen und in den unmarkierten Raum vordringen.
Der Hunger nach Welt hat das Expeditionskorps der Wiener Festwochen, den Regisseur Johan Simons und den Autor Tom Lanoye, mit der Produktion „Fort Europa“ tief in den Bauch der Stadt tauchen lassen. Der Wiener Südbahnhof ist der Ort, an dem die Stadt maßgeblich ihren ökonomisch-demografischen Stoffwechsel mit den südlichen und östlichen Randlagen Europas reguliert. Hier treffen Pendler aus der strukturschwachen Provinz auf die Stadt, MigrantInnen mit und ohne Papiere.
Im Wiener Selbstbild ist der schmuddelige kunststeinverkleidete Nachkriegsbau eher ein Unort, ein Stück real existierender Moderne, das weder zur vormodernen Inszenierung der Wiener Tourismuswirtschaft noch zur ultramodernen des örtlichen Standortmarketings passt. Er soll abgerissen werden. Ein Theaterort also. Der Regisseur Johan Simons platziert die hochverehrte Festwochenversammlung auf den Plastikschalensitzen der Wartehalle vor den Gleisen. In den Gängen dazwischen spielen und singen die Darsteller über Mikroports, auf Frachtkisten und Operationstischen.
„Fort Europa“ firmiert als „Hohelied der Zersplitterung“, verspricht, so der Festwochenintendant Luc Bondy, eine Reflexion darüber, wie nationale Grenzen verschwinden und neue ökonomische Grenzen innereuropäisch gezogen werden. Tom Lanoye wählt das Verfahren der Allegorie, in dem er je einen exemplarischen Gegenstand europäischer Feuilletondebatten einer Person zuordnet. Ein nervenbündeliger Geschäftsmann verhandelt Neoliberalismus/Globalisierung nebst Kritik, eine atemlos geschäftige Karrierewissenschaftlerin auf der Durchreise nach Dubai hakt Molekulargenetik und Reproduktionsmedizin ab, ein junger belgischer Armeeangehöriger ruft das Trauma der Neutralitätsverletzung von 1914 in Erinnerung.
Der Auftritt eines tanzenden und singenden Chassid verursacht endgültig Unbehagen am anekdotischen und personalisierenden Verfahren des Textes, das in der Berührung mit den Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts allen Boden verliert. Mit der Repräsentation des Kontinents in der Dreieinigkeit dreier Grazien als alter Huren überschreitet Lanoye die Grenze zur Altherrenfantasie. Johan Simons exponiert drei virtuose Darstellerinnen als sich selbst bezichtigende eklige weibliche Körper.
Über das singuläre Scheitern dieser Produktion hinaus verrät die Aufführung etwas über Ethik und Ästhetik eines derzeitigen sich postnational gebärdenden Theaters im europäischen Koproduktions- und Festivalmarkt. Was zuerst stirbt, ist die behauptete Welthaltigkeit der in „Fort Europa“ vorgetragenen künstlerischen Positionen.
Penner und Passanten bleiben Ornamente, weil ihrem Auftritt die im Kunstbetrieb zugelassenen habituelle Formatierungen fehlen und sie auch einen guter Grund für einen kleinen Lacher geben. Die höchst unterschiedlichen gesellschaftlichen Erfahrungen, die an diesem Ort kulminieren und offen zutage treten, interessieren weder hier noch vermutlich an den koproduzierenden Orten Utrecht und der Ruhrtriennale. Auf dieser Ebene bedeutet die überörtliche Perspektive zunächst einen Verlust an der Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeit. „Fort Europa“ ist im Treibhaus der Festivalszene darüber die Luft ausgegangen.
Ein weiteres Lehrstück über die derzeitigen Chancen und Grenzen einer internationalen Theaterperspektive liefern zwei ästhetisch zwar gelungene Festwochenproduktionen „Tierno Bokar“ von Peter Brook und „H2 – 2005“, ein Stück des brasilianischen Choreografen Bruno Beltrao.
Brook erzählt im gewohnten Bühnenweihespiel seines überragenden internationalen Ensembles von der Passion des islamischen Mystikers und Gelehrten in einer Weise, wie aus der Feder von Lessing. Der islamische Nathan predigt Toleranz und Mitmenschlichkeit und bezahlt dies mit einem Martyrium. Der fragwürdige und nicht zu Ende gebrachte Toleranzbegriff der europäischen Aufklärung wird hier einer islamischen Stimme in den Mund gelegt. Sollte sie nicht so sprechen, droht wohl noch immer die humanitäre Intervention. Doch mit gemessener Stimme und gemessenem Schritt verbreitet das Brook-Ensemble die Aura einer weltumspannenden Schönheit.
Zur Schönheit verurteilt scheint der nichteuropäische Körper im europäischen Theaterdiskurs auch in Bruno Betraos HipHop-Choreografie „H2 – 2005“. Einer Gruppe jugendlicher Tänzer aus der brasilianischen Stadt Niteroi gelingt dennoch eine der wenigen glaubhaften Transformationen solchen Bewegungsmaterials von der Straße in den Kunst-Tanz-Kontext.
Beltrao bricht das Material durch ungewohnten Umgang mit der Musik bis zum völligen Verzicht. Er öffnet damit die Perspektive tänzerischer Autonomie gegenüber popkulturellen Vorgaben, auch wenn er sie gleich wieder zu eher konventionellen Formationen hin verlässt.
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