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Von Mollusken und Menschen

ZEIT Die Biologin Elisabeth Tova Bailey erzählt in einem poetischen Essay von einer Schnecke

Was verbindet den Menschen mit der Schnecke? Normalerweise nicht viel. Für den Gärtner ist das Weichtier ein Feind, für den Feinschmecker in manch spezieller Erscheinungsform eine Delikatesse. Im großen Ganzen aber könnten die Lebenswelten von Mensch und Molluske kaum separater sein. Zu verschieden in Form, Größe und Charakter, zu unterschiedlich in der gesamten Zielrichtung ihres jeweiligen Daseins sind die beiden Spezies, als dass sie sich je freiwillig näherkämen.

Die amerikanische Biologin und Journalistin Elisabeth Tova Bailey hatte ebenso wenig ein besonderes Verhältnis zur Schnecke wie andere Menschen auch, als sie von einer lebensbedrohlichen Infektion, die sie sich auf einer Europareise zugezogen hatte, monatelang aufs Krankenlager gezwungen wurde. Eine Freundin brachte der Bettlägrigen einen Veilchentopf mit. Das Veilchen war dabei nicht die Hauptsache, sondern diente als Zuhause für eine kleine braune Schnecke, die die Freundin bei einem Spaziergang gefunden hatte. Eine in den Wäldern Nordamerikas heimische Neohelix albolabris. Eher widerwillig nahm die Kranke das Geschenk an.

Was dann folgte und viele Jahre später von Elisabeth Tova Bailey aufgeschrieben wurde, ist die Geschichte einer wunderbaren, wenngleich recht einseitigen Freundschaft. Zu schwach, um anderes zu tun, beginnt die Kranke die Schnecke zu beobachten. Diese, vor allem nachts aktiv, frisst zunächst aus Mangel an anderer Nahrung Löcher in die Postkarten, die Bailey an Freunde schreibt. Dann findet die Biologin heraus, dass die Schnecke Gefallen an den welken Blättern der Schnittblumen findet, die ihr mitunter mitgebracht werden, und stellt verblüfft fest, dass das Tier beim Fressen ein Geräusch macht: „Es klang, als mampfte jemand sehr Kleines unablässig Selleriestangen.“ (Nachzulauschen auf www.elisabethtovabailey.net) Im Laufe dieses erstaunlichen kleinen Buches werden wir erfahren, dass die Schnecke über nicht weniger als 2.640 Zähne verfügt.

Natürlich lernen wir noch viel mehr; etwa dass die prähistorischen Vorfahren heutiger Schnecken gern Dinosauriermist verzehrten, wie Paläontologen anhand fossiler Funde feststellten. Und dass Darwin befand, Säugetiere und Mollusken seien voneinander „zu weit entfernt, um sie miteinander vergleichen zu können.“ Auch Bailey unternimmt nicht den Versuch dieses Vergleichs, zumindest nicht auf biologisch-klassifikatorischer Ebene. Weder ist ihr Buch ein umfassendes Kompendium über Schnecken noch eine nachträgliche Korrektur von Darwins Einschätzung. Was es aber vergleicht, sind die Lebensweisen von Mensch und Schnecke.

„Die Schnecke steht auf / Und legt sich wieder schlafen / Ohne viel Trara“ zitiert Bailey den japanischen Haiku-Dichter Kobayashi Issa. Ebendarin kann die Schnecke dem Menschen als Vorbild dienen. Ihres normalen Menschenlebens enthoben, hat Baileys Dasein sich dem Lebenstempo der Schnecke angeglichen, denn Zeit scheint die Kranke nun selbst im Überfluss zu besitzen. Und irgendwie hat sie es geschafft, dass auch für unsereinen die Zeit während der Lektüre anders zu vergehen scheint als sonst. Gleichsam freundlich lächelnd gleitet sie dahin, so angenehm unangestrengt und doch so anregend ist dieses Buch geschrieben, das auf sanfte und doch sehr eindrückliche Weise zeigt, dass, möglicherweise, das Leben nicht annähernd so kompliziert ist, wie man immer geglaubt hat. Und man möchte mit Kobayashi Issa sagen: „Ja, kleine Schnecke / Besteige den Berg Fuji / Aber ganz langsam.“

KATHARINA GRANZIN

Elisabeth Tova Bailey: „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Nagel & Kimche, Zürich 2012, 176 Seiten, 16,90 Euro

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