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Flucht aus der Privathölle

OPER Andrej Woron inszeniert „Lady Macbeth von Mzensk“ am Stadttheater Bremerhaven mit Sinn für den deftigen Charakter des modernen Klassikers

„Die Musik ächzt und stöhnt, keucht und gerät außer Atem, um die Liebesszenen möglichst natürlich darzustellen. Und die ‚Liebe‘ wird in der ganzen Oper in der vulgärsten Weise breitgetreten“

„Prawda“

VON ANDREAS SCHNELL

Katerina Lwowna Ismailowa ist mit dem reichen, aber faden Kaufmann Sinowi Borissowitsch Ismailow verheiratet. Sie sehnt sich nach Liebe, Leben, Aufregung. Stattdessen wird sie vom Schwiegervater Boris Timfofejewitsch Ismailow bedrängt, weil sie dem Sohn noch keinen Stammhalter geschenkt hat.

Um ein wenig Aufregung in ihr Leben zu bringen, bandelt sie mit dem Arbeiter Sergej an, während ihr Mann auf Geschäftsreise ist. Der Schwiegervater kommt ihnen auf die Schliche. Um ihre Liebe zu retten, vergiftet ihn Katerina. Als ihr Mann zurückkehrt und Verdacht schöpft, muss auch er sterben. Seine Leiche wird entdeckt, Katerina und Sergej werden zu Zwangsarbeit verurteilt. Auf dem Marsch nach Sibirien bandelt Sergej mit der Mitgefangenen Sonjetka an. Gedemütigt tötet Katerina erst sie, dann sich selbst. Dmitri Schostakowitsch schuf mit „Lady Macbeth von Mzensk“ nach einer Erzählung von Nikolai Leskow einen Klassiker der modernen Oper. Die Musik ist russische Moderne par excellence: grell, zärtlich, humorvoll, parodistisch, dramatisch, wie die Geschichte selbst. Das Libretto strotzt vor Derbheiten, steckt voller Erotik und Sex. Für Josef Stalin war das neben der Musik 1936 Grund genug, das Werk de facto verbieten zu lassen, nachdem es bei der Uraufführung zwei Jahre zuvor gefeiert wurde.

Ein namentlich nicht gekennzeichneter Artikel in der Prawda kritisierte die Musik der „Lady Macbeth von Mzensk“ als „grob, primitiv und vulgär. Die Musik ächzt und stöhnt, keucht und gerät außer Atem, um die Liebesszenen möglichst natürlich darzustellen. Und die ‚Liebe‘ wird in der ganzen Oper in der vulgärsten Weise breitgetreten.“ Das konnte Stalin nicht gutheißen, der nach den emanzipatorischen Tendenzen in der Sowjetunion in den Jahren nach der Oktoberrevolution die Familie wieder in ihr Recht setzen wollte.

Andrej Woron, der in Bremen durch seine „Dreigroschenoper“ und Pirandellos „Riesen vom Berge“ noch in bester Erinnerung ist, hat mit „Lady Macbeth“ mit viel Gespür für die Geschichte seine zweite Oper für das Stadttheater Bremerhaven inszeniert. Weniger opulent als in seinen Bremer Arbeiten zwar, aber er ist immer noch ein Meister darin, Räume zu erschaffen. Ein schlichtes weißes Wohnzimmer ist über die meiste Zeit des Abends Ort der Handlung: eine enge Privathölle.

Ab und zu hebt sich das nicht sehr traute Heim in die Höhe und offenbart die Welt der Arbeit: voller Schmutz und Brutalität. Und dann gibt es noch den Dachboden, ein bedrückend enger Raum, der unter anderem eine herrliche Solo-Szene des strengen Patriarchen Boris Timofejewitsch beherbergt. Der ist überhaupt eine der Attraktionen dieser Inszenierung: Werner Kraus verkörpert den Patriarchen, der nachdenkliche Töne nur dann kennt, wenn es um Wohl und Wehe der Familie als Betrieb geht, mit mächtigem Bariton. Damit steht er glaubhaft als Widerpart zu Katerina, die als Frau in diesem System nichts anderes sein darf als ein Mittel zum Zweck. Ihre Auflehnung gegen diese Funktion führt beinahe notwendig zur Katastrophe. Kirsten Blanck gestaltet diese Rolle nuancenreich und emotional jederzeit nachvollziehbar. Bemerkenswert auch Christine Graham als Axinja, die auch schauspielerisch glänzt. Und Stephan Tetzlaff lässt das Städtische Orchester die Partitur mit sicherem Gespür für die vielfältigen Facetten spielen.

■ nächste Aufführung: Samstag, 19.30 Uhr, Stadttheater Bremerhaven

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