„The Insurrectionist Next Door“: Im Zentrum der Macht ohne Aussicht auf Katharsis
Die Serie „The West Wing“ erzählt von einer vergangenen Ära. Alexandra Pelosi porträtiert Menschen, die 2021 beim Sturm auf das Kapitol dabei waren.
E s sind fünf simple Töne, mit denen W. G. Snuffy Waldens Gospel-inspirierte Melodie die ab 1999 ausgestrahlte Serie „The West Wing“ einläutet. Aber sie zeigen unmissverständlich an, dass wir uns in einer völlig anderen Zeitrechnung befinden. Was nicht heißt, dass es keine echten Krisen gegeben hätte. Aber der Umgang damit, die Institutionen, all dies schien felsenfest in diesem ja immer noch vergleichsweise jungen Land.
Und Josiah Edward „Jed“ Bartlet (gespielt von Martin Sheen) ist natürlich auch ein US-Präsident, wie er im Buche steht: warmherzig, aber streng, wenn es darauf ankommt; mit menschlichen Macken, aber stets verlässlich. Ein WASP vermutlich – in jedem Fall geistig auf Zack wie sein gesamter Stab, mit dem er sich zu bildungsbürgerlichem Kräftemessen hinreißen lässt.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind die heimlichen Hauptdarsteller im Westflügel des Weißen Hauses, ihnen hat Drehbuchautor Aaron Sorkin selbstironische Dialoge auf den Leib geschrieben, die Antisemitismus, Rassismus, Außenpolitik ebenso rasant verhandeln wie die Frage nach dem besten Tisch in Washington, D. C. Der vielleicht etwas zu versöhnliche Grundtenor: Die Welt ist nicht vollkommen, aber irgendwie doch in Ordnung.
„The West Wing – Im Zentrum der Macht“ und „The Insurrectionist Next Door“ sind auf Amazon Prime zu sehen
Ironisch genug, welch starke Sehnsüchte jene jüngste Vergangenheit heute selbst im traditionell doch eher amerikakritischen Milieu weckt. Waldens erhebende und erhabene Komposition liefert nun gerade im Rückblick den perfekten Soundtrack für eine Ära, die mit Ausklingen der Serie 2006 endgültig vorbei schien.
„The Insurrectionist Next Door“
Wäre Alexandra Pelosis neue Dokumentation „The Insurrectionist Next Door“ eine TV-Serie, es müsste eine ganz andere Titelmelodie dazu erklingen. Oder besser gar keine: Rauschen, Flimmern, permanent anschwellender Hyperpop-Erregungsloop.
Auch wenn, weitere Ironie der Geschichte, ihre Protagonistinnen und Protagonisten womöglich eine ähnliche Wehmut zum auch soundtechnisch verbindenden Moment einer Serie wie „The West Wing“ formulieren würden. Allerdings haben sie ihre ganz eigenen Schlüsse daraus gezogen, die ebenjenen common ground aktiv selbst untergraben.
In Deutschland wurde der Film kaum besprochen – dabei lässt er womöglich viel tiefer blicken als jene Titel, die sich vor allem an der Figur Donald Trump abarbeiten. Für „The Insurrectionist Next Door“ hat die Filmemacherin, nebenbei Tochter von Nancy Pelosi, Menschen getroffen, die beim Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 beteiligt waren.
Unbedarft, nicht unsympathisch
Viele von ihnen haben Haftstrafen erhalten, viele finden ihre Teilnahme noch immer richtig. Ausgesprochen unbedarft, keineswegs unsympathisch. Politisch in verschiedenen Richtungen zu verorten – oder vielmehr wohl apolitisch: Ein HipHopper und Familienvater, der Hassbotschaften über Demokraten rappt; ein ehemaliger Pornostar mit Faible für Gothic-Plateaustiefel; ein Geschwisterpaar; ein schwuler Weinberater, der früher mal Barack Obama gewählt hat. Allenfalls als Projektionsfolie für alle möglichen Affekte scheint ihnen die physische Welt mehr zu dienen.
Damit ist „The Insurrectionist Next Door“ ein kurzweiliges, fürchterlich banales Zeitzeugnis gelungen, das phänomenologisch über den 6. Januar hinausweist. Nur folgerichtig: Die erlösende Katharsis, musikalisch, bildnerisch, dramaturgisch, enthält dieser Film vor.
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