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„Es ist nicht unser Ziel, das Lesenlernen zu ersetzen“

Für Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, sind viele Alltagsaufgaben Hürden und Stress. Könnte Künstliche Intelligenz sie sinnvoll unterstützen?

Interview Jerrit Schloßer

taz: Frau Skowranek, was haben Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, im Alltag von Hilfestellung durch künstliche Intelligenz, etwa durch ein Tool wie ChatGPT?

Kristin Skowranek: Wenn ich als alleinerziehende Mutter eine Entschuldigung für meinen Sohn schreiben muss, der krank geworden ist, kann ChatGPT dabei helfen. Genauso kann ich Texte auch einscannen und zusammenfassen lassen oder die KI darum bitten, mir die Inhalte in einfacher Sprache wieder auszugeben. Beispielsweise wenn ich einen Brief von einer Behörde bekomme, oder wenn mein Vermieter mir schreibt, muss ich den Text verstehen und darauf antworten können. Das kann mit KI gut funktionieren.

Geringe Literalität

Das Wort

Von dem Begriff „Analphabetismus“ raten Ex­pert*in­nen ab, da er als stigmati­sierend empfunden wird. Außerdem verkennt er, dass es sich bei geringer Literalität um ein Spektrum handelt, das ganz unterschiedlich ausgeprägt ist.

Die Zahlen

Von geringer Literalität betroffene Personen sind in verschiedenen Lebens­bereichen in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt. Männer sind mit 58,4 Prozent die Mehrheit der gering Literalisierten in Deutschland. Erwachsene über 50 machen den größten Anteil der Betroffenen aus.

Die Stufen

Die Referenzstudie zum Thema ist die sogenannte LEO-Studie der Uni Hamburg, die neueste ist von 2018. Zur besseren Einordnung wird geringe Literalität hier in drei Stufen, die Alpha-Levels, unterteilt. Die erste Stufe entspricht dem Buchstabenlevel und tritt in Deutschland nur sehr selten auf. Häufiger kommen die beiden anderen Stufen vor. Bei Alpha-Level 2 verstehen die Betroffenen zumindest einzelne Worte, scheitern aber an ganzen Sätzen. Mit Alpha-Level 3 verstehen die Menschen kurze zusammenhängende Sätze, können aber zusammenhängende Texte oft nicht verstehen.

taz: Wie funktioniert so etwas für die Betroffenen bisher?

Skowranek: Studien zeigen, dass das Umfeld der Betroffenen viele Aufgaben übernimmt, die mit Lesen und Schreiben verbunden sind. Künstliche Intelligenz könnte ein Werkzeug sein, das die Menschen im Alltag selbständiger macht. In Deutschland leben schätzungsweise 3,3 Millionen Menschen, die Deutsch als Muttersprache sprechen und nicht gut lesen und schrei­ben können. Diese Menschen sind im Alltag auf viel Unterstützung angewiesen.

taz: Sie beschäftigen sich damit, wie Betroffene mit KI umgehen. Wie sieht solche Forschung konkret aus?

Skowranek: Zusammen mit Lehrenden der Volkshochschule Hamburg habe ich Kurse besucht, in denen Menschen lesen und schreiben lernen. Dort habe ich die Teil­neh­me­r:in­nen mit KI Aufgaben lösen lassen, um den Status quo festzuhalten: Was können diese Menschen schon? Worauf müssen sie vorbereitet werden? Das ist die Datengrundlage, die wir jetzt auswerten. Daraus entwickeln wir ein Work­shop­kon­zept, das Lehrende befähigen soll, selbst Kurse durchzuführen, in denen Wissen über KI vermittelt wird.

Privat

Kristin Skowranek, 38, forscht an der Uni Hamburg zu der Frage, wie Menschen mit geringer Literalität von künstlicher Intelligenz profitieren können.

taz: Sprachmodelle wie ChatGPT können zwar Texte generieren, am Anfang muss ich aber immer selbst etwas eingeben. Ist das nicht ein Problem?

Skowranek: Auch wenn man einzelne Füllwörter weglässt, kann die KI eine sinnvolle Antwort generieren. Das ist erst mal ein Vorteil für die Betroffenen. Entscheidend ist der Satzbau. Wenn dieser durcheinandergerät, wird es schwierig, als Antwort einen sinnvollen Text zu erhalten. Eine unerwartete Hürde war außerdem die Schreibweise bestimmter Laute. Wenn zum Beispiel im Wort „für“ das ü fehlt, kann das Modell den Kontext oft nicht mehr erkennen.

taz: Könnten die Menschen das, was sie eingeben möchten, nicht einfach einsprechen?

Foto: Depositphotos/imago

Skowranek: Für unser konkretes Forschungsprojekt hatten wir die Diktierfunktion ausgestellt. Alle Teil­neh­me­r:in­nen mussten also mit der Tastatur tippen. Vor allem diejenigen, die auf einem sehr niedrigen Level lesen und schreiben können, hatten dabei Probleme. Aber die Diktierfunktion könnte ihnen die Eingabe im Alltag sicherlich erleichtern.

taz: Oft geben Sprachmodelle lange Antworten. Ist das nicht umständlich für Menschen, die nicht gut lesen können?

Skowranek: Ja, das kam häufig vor. Viele der untersuchten Teil­neh­me­r:in­nen hatten daher Verständnisprobleme. Das lässt sich aber leicht lösen, indem man den Text zusammenfasst. Zum Beispiel, indem man „kürzer“ dahinterschreibt. Ein Wort genügt also, um dieselbe Aussage in einem wesentlich kürzeren Text zu erhalten. Ich kann mir Texte auch vorlesen lassen, um sie besser zu verstehen.

taz: KI neigt auch zum Halluzinieren und erfindet Antworten frei. Wie sollen Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, das erkennen?

Skowranek: Grundsätzlich würden wir bei KI-generierten Texten immer die Empfehlung geben, einen Faktencheck zu machen. Menschen mit geringer Literalität sind da eingeschränkt in den Möglichkeiten. Das heißt, wenn sie sich wichtige Texte von der KI generieren lassen, sollte immer eine zweite Person mit draufschauen.

taz: Lohnt es sich für die Betroffenen dann überhaupt, KI zu nutzen?

Skowranek: Einen Text generieren lassen, also das alleine mit technischer Unterstützung zu schaffen, wäre schon ein Meilenstein, selbst wenn vor dem Abschicken noch mal eine zweite Person auf das Ergebnis schaut. Für den Alltag sind es ansonsten kleine Dinge, die KI erleichtern kann. So etwas wie etwa eine Kleinanzeige erstellen, das klappt schon gut.

taz: Statt mit Menschen an KI-Tricks zu arbeiten – wäre es nicht sinnvoller, sich auf eine Verbesserung der Angebote zu konzentrieren, mit denen die Menschen das Lesen und Schreiben wirklich lernen können?

Skowranek: Unser Ziel ist es nicht, das Lesen- und Schreibenlernen zu ersetzen. KI kann dabei sogar unterstützen. Da sehe ich tatsächlich einen großen Vorteil für Grundbildungs- und Alphabetisierungskurse, weil KI die Möglichkeit bietet, Unterricht auf eine andere Art und Weise zu personalisieren.

taz: Wie denn ganz konkret?

Skowranek: Personen können sich Lernmaterialien zu Themen, die sie interessieren, selbst generieren. Wenn sie zum Beispiel die Beatles mögen, lassen sie sich einen Lückentext genau dazu generieren und trainieren so bestimmte Wörter. Das motiviert beim Lernen und regt dazu an, neue Texte zu lesen. Die Forschung sieht grundsätzlich KI eher als Tool, ähnlich wie einen Taschenrechner. Als der Taschenrechner eingeführt wurde, gab es Befürchtungen, dass Menschen das Rechnen verlernen würden. Stattdessen haben wir gelernt, ihn sinnvoll zu nutzen.

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