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Geopolitik der US-WahlenAm Ende der alten Welt

Ihre globale Führungsrolle haben die USA verloren. Welche Rolle werden sie künftig spielen? Trump und Harris stehen für unterschiedliche Konzepte.

Biden in Berlin: Zwischen Starmer, Scholz und Macron würde sich auch Harris wohlfühlen Foto: Lisi Niesner/reuters

Zwei Bilderstrecken aus den vergangenen Wochen fassen den Zustand der Welt zum Zeitpunkt der US-Präsidentschaftswahlen zusammen. Die eine entstand in Berlin am 18. Oktober, als US-Präsident Joe Biden den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte und aus Großbritannien und Frankreich Keir Starmer und Emmanuel Macron dazustießen. Die offiziellen Fotos aus dem Kanzleramt zeigen die vier Führer des Westens in Posen der Unbekümmertheit, mal lächelnd, mal diskutierend, immer unter sich. Ein nichtoffizielles Bild fällt aus der Reihe: Scholz gestikuliert mit dem Rücken zur Kamera, Macron guckt ihn völlig entgeistert an, Biden schaut verständnislos in die Runde und Starmer tut so, als sei er nicht da.

Die andere entstand im russischen Kasan am 24. Oktober, als Russlands Präsident Wladimir Putin den BRICS-Gipfel der großen Schwellenländer ausrichtete und nicht nur seine vier BRICS-Amtskollegen Lula da Silva, Narendra Modi, Xi Jinping und Cyril Ramaphosa begrüßte, sondern auch zahlreiche Anwärter und Gäste, vom türkischen Präsidenten Erdoğan bis zum UN-Generalsekretär António Guterres.

Die offiziellen russischen Gipfelfotos zeigen Putin als souveränen Gastgeber der ganzen Welt, umgeben von Gefolgsleuten, mal lächelnd, mal händeschüttelnd, mal weise, mal streng, aber nie allein. Ein Bild, natürlich auch offiziell, fällt aus der Reihe: Putin steht mit dem Rücken zur Kamera und begrüßt Guterres, der sich verneigt und mit unsicherem Blick zum mächtigsten Russen aufblickt.

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In dieser Welt muss das nächste US-Staatsoberhaupt seinen Platz finden. Kamala Harris wäre wahrscheinlich am ehesten im Berliner Kanzleramt zu orten, im intensiven und ratlosen Austausch mit ihren westlichen Amtskollegen. Donald Trump passt eher zum Gipfel in Kazan, ein inhaltsleeres Schaulaufen von Alphatieren, die sich alle jeweils für den Mittelpunkt der Welt halten.

Der Rest der Welt kam selten vor im Wahlkampf

Im US-Wahlkampf kam der Rest der Welt wie immer eher selten vor, etwa als störender Widerspruch arabischer US-Amerikaner und linker Demokraten gegen Joe Bidens Unterstützung Israels, was Kamala Harris wichtige Stimmen kosten könnte. Die Zukunft der Ukraine als Schicksalsfrage der Weltordnung – darf eine Großmacht wieder ungestraft Nachbarländer vernichten und sich einverleiben, wie vor 1945? – ist kaum Thema gewesen, außer als Vorführung der wiederholten Weigerung Joe Bidens, der Ukraine uneingeschränkte Selbstverteidigung mit westlichen Waffen zu erlauben, also militärische Ziele in Russland zu zerstören.

Guterres verneigt sich vor Putin und blickt zu ihm auf Foto: imago

Die Wirtschaftsdominanz Chinas, das wachsende Selbstbewusstsein des Globalen Südens, die schwindende Anziehungskraft des Westens – vor diesem Hintergrundrauschen lamentieren zwar die USA über ihren Niedergang. Aber das nützt höchstens Donald Trump, der die USA aus ihren internationalen Verpflichtungen lösen und die US-Außenpolitik auf Eigeninteresse als Prinzip zurückführen möchte.

Eigeninteresse ist auch das Prinzip all der anderen großen Staatenführer dieser Tage: in Moskau und Peking, in Jerusalem und Teheran, auch in Ankara oder Pretoria, letztlich auch in Kyjiw und Paris und sogar in Berlin. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in den 1990er Jahren hofften viele auf eine multilaterale neue Weltordnung, in der alle Länder gemeinsamen Regeln folgen, für gemeinsame Ziele eintreten und kooperieren.

Stattdessen ist im 21. Jahrhundert eine multipolare Welt entstanden, in der die Nationalstaaten jeweils nach eigenen Regeln ihre eigene Ziele verfolgen, mal mit- und mal gegeneinander, ohne Anspruch auf Gemeinsamkeit oder Universalismus. Es ist die Welt, in der Guterres Putin zuhört statt andersherum. Und es ist die Welt, in der Donald Trump zuhause ist, nicht Kamala Harris – was nicht heißt, dass sie darin nicht auch zurechtkäme.

Jeder Akteur agiert nach eigenem Gutdünken

Globale Probleme werden in dieser multipolaren Welt nicht mehr gemeinsam gelöst. Dafür gibt es weder die Instanz – die Vereinten Nationen sind nur noch eine Bühne, auf der nicht Konsens gefunden, sondern Dissens formuliert wird – noch die politische Vision und Überzeugungskraft. Jeder Akteur agiert nach eigenem Gutdünken ohne weitere Verantwortung. Aufrüstung und Drohgebärden, Handelskriege und Protektionismus, Grenzschließungen und Flüchtlingsabwehr, digitale und finanzielle Abschottung, „ökonomische Souveränität“ und Abkehr von universellen Standards – all diese Phänomene und Schlagworte vereinen inzwischen nicht nur die Autokratien in Ost und Süd, sondern prägen auch zunehmend die Politik des Westens.

Glaubwürdigkeit in Sachen Demokratie, Menschen- und Völkerrecht hat im Weltmaßstab sowieso niemand mehr. Der Westen beansprucht diese Glaubwürdigkeit in Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die ­Ukraine. Aber wer heute immer noch Selenskyjs Kriegsführung strengen Einschränkungen unterwirft, Netanjahus Kriegsführung aber uneingeschränkt stützt, kann keine Solidarität gegen Putin einfordern und auch ansonsten keine Einhaltung von universellen Regeln anmahnen. Eine Kluft zwischen US-­Führungsanspruch und den tatsächlichen Möglichkeiten der US-Außenpolitik ist entstanden. Darauf ist Washington nicht eingestellt.

Auf der anderen Seite stehen die aufstrebenden Mächte in Ost und Süd erst recht nicht für eine lebenswerte Zukunft. Wenn eines die Regime in China, Russland und den großen und kleinen Schwellenländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas vereint, dann dass sie alle von alten Männern regiert werden, die Klüngelwirtschaft betreiben und ihrer jungen Bevölkerung Teilhabe weitgehend versagen.

Putin beim BRICS-Gipfel: Die alten klüngelnden Männer würden Trump sicherlich gerne aufnehmen Foto: Maxim Shipenkov/EPA Pool

Türkeis Erdoğan ist 70. Chinas Xi und Südafrikas Ramaphosa sind 71. Russlands Putin und Nigerias Tinubu sind 72. Indonesiens Prabowo ist 73. Indiens Modi ist 74. Israels Netanjahu ist 75. Brasiliens Lula ist 77. Der saudische König ist 78. Irans Khamenei ist 85. Nicht alle sind prinzipienlose Despoten, aber selbst der als progressiv gefeierte Lula lädt Putin trotz internationalen Haftbefehls in zwei Wochen zum G20-Gipfel nach Brasilien ein, ein Gründungsland des Internationalen Strafgerichtshofs.

Das Paradox: Nie gab es so viele Jugendliche auf der Welt, aber in Zeiten des nachlassenden Bevölkerungswachstums und des medizinischen Fortschritts sind die Alten die am schnellsten wachsende demografische Gruppe der Welt. Ihre Stunde schlägt jetzt. Ihr greiser Machterhalt ist der Kern des Machtanspruchs aus dem Osten und dem „globalen Süden“, der den Westen alt aussehen lassen soll. Dieses Paradox, das eine greise Macht­elite gegen die jüngeren 90 Prozent stellt, ist ein Rezept für vertiefte soziale Gegensätze und explosive politische Spannungen. Auch das ist eher die Welt von Donald Trump, nicht von Kamala Harris.

Gefangen in der Trump-Welt

Der 78-jährige Donald Trump macht es sich in dieser Welt einfach. Er erklärt den US-Wählern, er werde die Kriege in Nahost und Ukraine beenden. ­Details spielen keine Rolle, es geht um Deals. Nach bisherigen Erfahrungen ­bedeuten Trump-Deals, sich mit dem Stärksten zu verständigen.

Im Klartext heißt das: Selenskyj muss die Waffen strecken, Putin kann ­triumphieren. Netanjahu kann seine Nachbarn weiter in Trümmer legen. Taiwan kann bei der von manchen ­US-Beobachtern für 2026 erwarteten Invasion durch die VR China alleine sehen, wo es bleibt. Trump geht davon aus, dass er von allen Strongmen der Welt am meisten Gehör finden wird, weil die USA wieder die Nummer Eins sein sollen. Dass diese Ära vorbei ist, nimmt er aber ­bislang nicht zur Kenntnis.

Die Welt des Jahres 2024 ist eine Trump-Welt, die eigentlich eine Harris-Politik brauchen könnte

Kamala Harris (60) hat da kein klares Gegenrezept. Sie erklärt den US-Wählern, warum die Kriege in Ukraine und Nahost weitergehen müssen, und zugleich möchte sie Frieden herbeiführen. Bei näherem Hinsehen ist da weder Strategie zu erkennen noch Führung.

In ihrer TV-Debatte mit Trump behauptete die amtierende US-Vizepräsidentin sogar, es gebe heute keine US-Truppen in Kriegsgebieten mehr. Sie vergaß dabei nicht nur Irak und Syrien, wo US-Militäreinheiten immer noch den Islamischen Staat bekämpfen und aktuell ständig von Verbündeten Irans angegriffen werden. Sie akzeptierte implizit auch Trumps wünschenswerten Idealzustand einer USA ohne mühselige ausländische Ver­strickungen.

Der Rest der Welt soll bitte draußen bleiben – das eint Trump und Harris, nur ihre Wege zu diesem Ziel sind unterschiedlich: paktieren mit den größten Halunken für den einen, Abwälzen der Anstrengungen auf internationale Partner für die andere. So unterschiedlich ist das gar nicht, wie die Europäer spätestens beim nächsten Ukraine-Gipfel merken werden.

Bestenfalls wäre eine Harris-Außenpolitik eine, die internationale Institutionen stärkt und mehr Multilateralismus praktiziert, ohne den weder der globale Klimawandel noch die globale Migration noch die globale Ungleichheit noch die globale Unsicherheit wirklich zu bewältigen sind. Aber wenn sonst niemand mitspielt und die Welt multipolar bleibt, ist auch dieses Ansinnen vergeblich.

Die Welt des Jahres 2024 ist eine Trump-Welt, die eigentlich eine Harris-Politik brauchen könnte. Egal wer diese Präsidentschaftswahl gewinnt – dieses Dilemma bleibt.

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