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„Eine Zeit des Übergangs“

Eine Ausstellung der Hamburger Theaterbücher von Leopold Jessner (1878-1945) in der Staatsbibliothek zeigt den Mythos des Großregisseurs in seinem Entstehen. Und widerlegt ihn

Interview Katrin Ullmann

taz: Was sind Bühnenbücher, die Sie in der Ausstellung „Temperamente des Theaters‘ zeigen?

Anna Sophie Felser: Das sind Textbücher mit handschriftlich eingetragenen Informationen, die für eine Theateraufführung wichtig sind. Zum Beispiel Auf- und Abtritte, Lichtstimmungen oder die Anordnung der Requisiten.

taz: Sie zeigen die Bühnenbücher von Regisseur Leopold Jessner. Was zeichnete ihn aus?

Martin Jörg Schäfer: Seine Berliner Inszenierungen aus der Weimarer Republik waren geprägt von erheblichen interpretativen Eingriffen in den Text, starken Lichtkonzepten und Bühnenbildern. Jessner war – neben Max Reinhardt – prägend für das heutige Regietheater. Sein Hamburger Wirken von 1904 bis 1915 am Thalia Theater fällt in eine Zeit des Übergangs. Üblicherweise wurden die Stücke, meist Lustspiele und Komödien, eher arrangiert als inszeniert. Und die Proben dauerten nur drei oder vier Tage.

UniHH

Anna Sophie Felser

promoviert derzeit über Leopold Jessner, und seine Bühnenbücher.

Felser: Zu Jessners Errungenschaften gehört eine Erhöhung der Probentage. Durch deren Anerkennung als Arbeitszeit veränderte sich die Bedeutung des Probens und sie führte auch zu einer größeren Wertschätzung aller Mitwirkenden.

Schäfer: Die Regie-Instanz bekam also viel mehr Raum, um präziser zu arbeiten.

Felser: Sie konnte – und kann – aber nur funktionieren, wenn die Gewerke zusammenarbeiten. Davon erzählen die exakten Annotationen und Niederschriften, also die Bühnenbücher.

Schäfer: Sie dokumentieren außerdem die Veränderung der Manuskriptkultur im Theater. Aus dieser reinen handschriftlichen Kultur im 18. Jahrhundert wird eine hybride, in der sich Druck mit Schreibmaschine und Handschrift mischen. Am Anfang unserer Recherche wussten wir von 16 Regiebüchern aus seiner Zeit am Thalia Theater …

Felser: …während der Recherche bin ich dann auf unerforschtes Material gestoßen, auf insgesamt 136 Bücher!

„Theater bedeutet Zusammenarbeit“

Anna Sophie Felser, Kuratorin

taz: Daraufhin haben Sie monatelang, Jessners Schrift entziffert?

Felser: Ja, es ist eine Mischung aus Kurrent und Sütterlin. Ich arbeite seit eineinhalb Jahren an dem Projekt und schreibe auch meine Dissertation darüber.

taz: Wie kommt man auf so ein Dissertationsthema?

Felser: Das Projekt ist an der Uni Hamburg im DFG-Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“ verankert. Das untersucht handgeschriebene Artefakte seit Anfang der Schrift und quer durch alle Weltregionen. Im Vergleich wollten wir eine besondere Manuskriptkultur des Theaters anhand der lokalen Bestände der Staatsbibliothek erforschen. So sind wir auf Jessners Hamburger Zeit gestoßen.

Martin Schäfer/UniHH

Martin Jörg Schäfer

ist Professor für deutsche Literatur und Theaterforschung an der Universität Hamburg.

taz: Und wie haben Sie das in eine Ausstellungsidee übersetzt?

Schäfer: In der Ausstellung geht es uns darum, wie die Manuskriptkultur des Theaters die Entwicklung zum Großregisseurs flankiert, aber auch relativiert. Und das in einem Kontext, in dem im damaligen Spielplan gleichzeitig „Charley‘s Tante“, aber auch Dramen von Frank Wedekind aufgeführt werden. Als Ku­ra­to­r*in­nen wollen wir auch die Frage verhandeln: Wie war es um die Regie als Kunstform bestellt?

Felser: Uns war schnell klar, dass wir die unterschiedlichen Bühnenbücher zeigen: also neben Jessners Regiebüchern auch das Inspizier- und das Soufflierbuch und, wenn vorhanden, das Rollenbuch ei­ne*r Schauspieler*in. Das Schöne ist: Je mehr Bücher von einem Stück da sind, desto klarer wird, dass an einer Inszenierung viele Menschen mitarbeiten. Theater bedeutet Zusammenarbeit.

Ausstellung „Die Temperamente des Theaters“, Staats- und Unibibliothek Hamburg, werktags 9-24 Uhr, am Wochenende 10-24 Uhr. Bis 27.  10.

taz: Mit Leopold Jessner geht es– mal wieder – um einen Mann und Großregisseur…

Schäfer: …und das heute, in einer Zeit, in der im Theater viel über toxische Männlichkeit und über Machtverhältnisse diskutiert wird. Gerade deshalb ist es interessant, diese 120 Jahre zurück zu gehen, in der das Regietheater entstanden ist. Um festzustellen, dass der Mythos des Großregisseurs durch die gezeigten Artefakte widerlegt wird.

Felser: Außerdem war Jessner Jude und Sozialdemokrat und ist 1945 im amerikanischen Exil gestorben. Gebrochen und unbekannt.

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