Kollektives Trauma nach 7. Oktober: L’Chaim, auf das Leben!
Wie umgehen mit dem tiefen Schmerz und der anhaltenden Bedrohung? Der Autor Marko Martin hat Gespräche mit Israelis geführt über ein kollektives Trauma.
Wie über den 7. Oktober schreiben? Wie reden über ein genozidales Massaker, das nicht zuletzt deshalb so unbegreiflich und kaum zu ertragen war, weil die Täter mit Bodycams ausgestattet waren und mit Handys filmten, um das Gemetzel live in die Welt zu posten, einzig aus dem Grund, um den Juden zu zeigen: Ihr seid nirgendwo sicher.
Der Journalist und Schriftsteller Marko Martin ist dieser Erschütterung nachgegangen und hat sich mit Freunden in Israel, in Berlin lebenden Juden und mit Angehörigen der Geiseln unterhalten. Er hat keine Interviews geführt, sondern mit den Betroffenen in Alltagssituationen oder in einer Bar oder in einem Café geredet, hauptsächlich aber hat er ihnen zugehört.
Zum Beispiel Adi, der sich an die „furchtbare Stille“ erinnert an jenem 7. Oktober, als das Massaker begann und die ersten Berichte in den Medien auftauchten. Keiner seiner Berliner Nachbarn, die er häufig auf der Straße traf, keine der Eltern von Kindern, mit denen sein Sohn in einer Klasse war und mit denen man Kindergeburtstage gefeiert hatte, meldete sich bei ihm, obwohl sie wussten, dass Adi aus Sderot stammte, aus einer Kleinstadt, die zum Schlachtfeld geworden war. Kein „Wie geht’s dir? Wie geht’s deiner Familie. Können wir etwas für dich tun?“.
Nach dem Schock meldeten sich schließlich Freunde aus Israel, wo die Schrecken nicht aufhörten und eine Horrormeldung die nächste jagte, als ein ganzes Land sich zu „einer einzigen WhatsApp-Telegram-Facebook-Gruppe“ zusammengeschlossen hatte und Eltern verzweifelt nach ihren Kindern suchten oder umgekehrt.
Woher kommt die Empathielosigkeit?
Marko Martin konnte sich das alles nicht anhören, ohne sich nicht selbst Gedanken zu machen, woher diese Empathielosigkeit der Deutschen kommt. Sind die jüngeren „Biodeutschen“, die nur wenige Tage nach dem Massaker das Leid der Palästinenser beklagten, etwa nicht die „Nach-Nachkommen schweigender Täter und Mitläufer, Enkel jener Achtundsechziger, die ‚Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot!‘ skandiert hatten“? Jene Kinder aus gutbürgerlichen Familien, „die mit Verweis auf reichlich Anne-Frank-Lektüre und Klezmer-Abende“ und durch die „fortgesetzte israelische Besatzungspolitik zu der Erkenntnis gekommen waren, dass es ja nun auch mal gut und das ‚Ende der Schonzeit‘ „gekommen sei?
Man versteht die Rage gut, in die sich Martin hineinschreibt, weil ja nichts aus der Luft gegriffen ist. Er kennt die empörten Reaktionen in der linken und liberalen Öffentlichkeit in Deutschland, die nach jedem von der PLO oder der Hamas provozierten Krieg einsetzen, wenn Juden, die vielleicht sogar selbst gegen den Krieg demonstrieren, für die Politik ihres Landes verantwortlich gemacht werden, während die Nachbarn nicht verstehen, warum Adi sie bittet, seine jüdische Herkunft nicht herumzuerzählen. Sie halten das für übertrieben, obwohl die Juden vor allem in Berlin allen Grund haben, vorsichtig zu sein, weil sie sich einfach nicht sicher fühlen können.
In Israel ist man mit anderen Dingen beschäftigt, hier werden ganz andere Fragen aufgeworfen, die sich in Deutschland kaum jemand stellt, die Frage zum Beispiel, warum die hohen Millionenbeträge aus Europa und Katar von der Hamas nicht dazu genutzt wurden, etwas Prosperierendes zu erschaffen, und warum stattdessen eine „Tunnelmonster-Stadt“ errichtet wurde mit Raketenabschussrampen neben Schulen und Krankenhäusern.
Platz für Zorn, Wut und Rachegefühle
Noch mehr aber spielen Fragen eine Rolle, wie man das kollektive und individuelle Trauma verarbeiten kann, „mit welchen Phasen nach einem Trauma zu rechnen ist, wie lange es womöglich dauern wird. Und dass es Platz für Zorn, Wut und Rachegefühle geben muss.“ Vor allem, weil man in Israel weiß, dass beim Massaker auch palästinensische Zivilbevölkerung mitmachte und dass es eben nicht nur Hamas-Kämpfer waren. Und weil man den Bericht einer freigelassenen Geisel kennt, die in der Wohnung eines UNRWA-Angestellten festgehalten wurde.
Wie soll man damit umgehen, wenn man keine Lösung darin sieht, Gaza in Schutt und Asche zu legen? Wie damit umgehen, dass eine Lösung des Konflikts und ein Frieden nicht in Sicht sind?
„Wir können“, sagte Golda Meir einmal, „den Arabern verzeihen, dass sie unsere Kinder umbringen. Aber wir können ihnen nicht verzeihen, dass sie uns zwingen, ihre Kinder umzubringen.“ Und weiter: „Der Frieden wird kommen, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie uns hassen.“ Trotz dieser deprimierenden Einsicht Meirs – den Märtyrerkult vor Augen – endet Marko Martins Buch mit einem trotzigen „L’Chaim, auf das Leben“, denn etwas anderes bleibt den Israelis auch gar nicht übrig. Marko Martin ist ein erschütterndes Buch gelungen, in dem Israelis zu Wort kommen, die auf beeindruckende Weise versuchen, die über sie am 7. Oktober hereingebrochene Katastrophe zu verarbeiten, ohne den Verstand zu verlieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels