Friederike Gräff Ethikrat: Auf unbestimmte Zeit verreist: Der Ethikrat verabschiedet sich
Kürzlich klingelte es morgens, und als ich verschlafen die Tür öffnete, stand der Ethikrat vor mir. Der Rat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Der Rat trug Koffer, die mit kariertem Stoff bespannt waren, und Strohhüte mit Bändern aus demselben Stoff. „Oh“, sagte ich, „verreisen Sie?“ „Wir sind gekommen, um uns zu verabschieden, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende. „Sind Sie länger weg?“, fragte ich und dachte, dass es ungerecht war, dass der Rat immer das tat, was er wollte, während ich immer noch nach so etwas wie einer Bestimmung fahndete. „Wir brechen für unbestimmte Zeit auf“, sagte eines der Mitglieder, das in der Regel schwieg. „Wir haben Ihnen etwas mitgebracht“, sagte das andere Mitglied und streckte mir einen verblichenen Reclam-Band entgegen: „Epiktet. Handbüchlein der Ethik“.
„Vielen Dank“, sagte ich. „Aber was bedeutet unbestimmte Zeit? Sie können mich doch nicht allein lassen.“ Der Ethikrat betreute mich seit vier Jahren, wobei Betreuen ein großes Wort für sein irrlichterndes Auftauchen war. Aber er war in seiner herben Art mein Trost an grau-schwarzen Tagen und ich wollte mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Der Kater kam an die Tür, gefolgt von den Kindern, die den Ethikrat interessiert betrachteten. „Warum gerade jetzt?“, fragte ich. „Es wird immer komplizierter, Krisen überall, wirklich überall, und die Verlockung, sich aus allem herauszuziehen, wird immer größer. Da können Sie nicht gehen.“
Ich guckte in den Garten, wo bis vor ein paar Tagen die beiden Hühner der Nachbarn gemeinsam durch die Beete gewandert waren. Manchmal, wenn eines plötzlich merkte, dass das andere nicht mehr in Sichtweite war, war es zu ihm gerannt, mit gestreckten gelben Beinen. Mittwochnacht war ein Marder in den Hühnerstall gekrochen und hatte eines totgebissen. Das andere hatte noch zwei Tage überlebt, aber dann war es in einem so erbärmlichen Zustand, dass die Nachbarn es töteten.
Es geschehen derzeit weitaus schlimmere Dinge, aber die Freundlichkeit der Hühner war unvermutet und jenseits meines Zutuns in mein Leben getreten und ebenso daraus verschwunden. Was sollte werden, wenn schon der Hühnerstall schwankte? „Ich wollte Sie doch meiner Mutter und meinem Bruder vorstellen“, sagte ich zum Rat. „Sie nehmen Anteil an meinem philosophischen Weg und ich wollte Sie alle zu Tee und Kuchen einladen.“ Ich schluckte und vielleicht fing ich auch an zu weinen, wer weiß das schon so genau.
„Aber Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende und tätschelte vorsichtig meinen Arm. „Wir bleiben für Sie erreichbar.“ „Wir haben ein Postfach eingerichtet“, sagte eines der Mitglieder, die in der Regel schweigen, und reichte mir einen Zettel. „Postfach Ethikrat 007“ stand darauf in schnörkeliger Schrift. „Wohin gehen Sie denn jetzt?“, fragte ich, um von meinem Geheule abzulenken. „Zunächst reisen wir nach Nikopolis“, sagte der Vorsitzende. „Wir wollen den Ort kennenlernen, wo Epiktet lehrte. Wussten Sie, dass er im Alter das Kind eines armen Freundes aufnahm und mit einer Amme aufzog, um es vor dem Ausgesetztwerden zu bewahren?“ „Nein“, sagte ich. „Warum nehmen Sie mich nicht auf, wenn Epiktet das kann? Ich bin philosophisch gesprochen auch ausgesetzt.“
„Epiktet lässt Sie dazu folgendes wissen, Frau Gräff“, sagte der Vorsitzende und blätterte in meinem Reclam-Band: „Du hast die Lehren empfangen, denen du beipflichten solltest, und du hast ihnen beigepflichtet. Auf was für einen Lehrer wartest du nun noch.“ „Auf Sie“, wollte ich sagen. Und dann gab mir der Rat die Hand, nickte den Kindern zu, tätschelte den Kater, ging die Treppe hinunter und die Tür schloss sich hinter ihm.
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