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Ein Regime implodiert

Eine gerne vergessene Geschichte über Sigmaringens Schloss: Hier verbrachte die Vichy-Regierung ihre letzten Monate

Endstation des Vichy-Regimes: Philippe Pétains Büro im Schloss Sigmaringen 1945 Foto: bpk

Von Benno Schirrmeister

Für Städte nutzt keiner den Ausdruck normschön. Dabei passt er auf Sigmaringen so gut: Alles propper, geraniengeschmückter Figurenbrunnen vor dem reinlich verputzten Neorokokorathaus. Und über allem thront das besonders mittelalterliche Schloss aus dem 18.–19. Jahrhundert. Erst Anfang des Jahres hat die SWR-„Landesschau“ die Touri-Attraktion eine Woche lang in kitschigen Bildern abgefeiert, ganz ohne zu erwähnen, was hier vor 80 Jahren los war, seit September 1944. Aber mit dem welthistorischen Moment dieses Bauwerks ist auch schwer umzugehen.

Nicht, weil es ein dunkles Kapitel wäre, bestätigt auch Clemens Klünemann, Professor an der PH Ludwigsburg, der zum Thema publiziert hat: „Man denkt erst, es ist etwas Heimatgeschichtliches, aber dann tun sich immer mehr Facetten auf, wie in einem Kaleidoskop.“ In dem dominieren Blau-Weiß und auch Rot in seltsam schriller Ausprägung: In Sigmaringen nämlich hat die Vichy-Regierung ihren Untergang vollendet, vom 7. September 1944 an bis zum 21. April 1945.

Am 22. April marschiert dann die erste französische Armee unter General Joseph de Lattre ein. Denkbar wäre gewesen, dass dieses Zwischenspiel die französischen Befreiungstruppen motiviert hätte, ihren Zorn auszuleben. Aber so war es nicht. „Das war hier nicht, wie in Freudenstadt“, sagt Autorin und Journalistin Gabriele Loges, die viele Zeitzeugeninterviews geführt hat. Dort hatten die Befreier aus Rache fürs Massaker von Oradour Häuser angezündet und 600 Frauen vergewaltigt.

Für Sigmaringen gibt es keine Zahl. „Ich habe auch keine Betroffene kennengelernt“, sagt Loges. Dass es auch dort zu sexueller Gewalt gekommen ist, hält sie dennoch für wahrscheinlich. Ein kürzlich im Schloss aufgeführtes Theaterstück von Gerd Zahner und Johannes Stürner erinnert daran, etwas pauschal vielleicht. Eher lose nebeneinandergestellt hat es Befreiungsgrauen und Vichy-Groteske. Die beschäftigt die Fantasien schon lange. Mindestens zwei französische Romane – der eine etwas tranfunzelig, der andere widerlich – thematisieren sie. Und erforscht wird in Frankreich seit den 1980ern, wie genau das politisch tote Personal des Kollaborationsregimes von Maréchal Philippe Pétain auf Adolf Hitlers Geheiß im Schloss herumgespukt hat, eher verängstigt als furchterregend.

Staaten brauchen Rituale, um sich selbst zu behaupten. Das gilt erst recht für Pseudostaaten. Zwar erreicht der Konvoi mit Pétain, dem greisen Sieger von Verdun, Sigmaringen bereits am 8. September. Aber zur Hauptstadt oder sogar zum verbliebenen Staatsgebiet des Frankreichs der Kollaboration avanciert das Schloss den internen Schriftwechseln zufolge so richtig erst durch einen Staatsakt am 1. Oktober, eine cérémonie des couleurs. Mit historischen Wetterangaben ist das immer so eine Sache, aber laut Henry Rousso, Koryphäe unter Frankreichs Vichy-Historikern, hat an jenem Sonntag eine bleiche Sonne die Schwäbische Alb beschienen. In ihrem Licht marschiert als Ablösung der Wehrmachtwachen um 11.15 Uhr ein klägliches Trüppchen französischer Milizsoldaten auf. Es dient als Nationalgarde, gekleidet in schwarze, recht uneinheitliche Uniformen.

Die Köpfe sind mit Barett, Helm oder zur Not einer Wollmütze bedeckt. „Teils handelt es sich um Greise, teils um Jugendliche“, so Rousso in seinem Sigmaringen-Buch. Es fällt ihnen schwer, in Reih und Glied zu stehen. Ein Trommelwirbel. Langsam steigt die Trikolore am Fahnenmast empor. Bleu. Blanc. Rouge. Und dann wird Fernand de Brinon eine staatstragende Rede halten. Seine Kollaborateure haben ihn zum Anführer der Regierungskommission gemacht. In seiner ersten Ansprache als Präsident betont er nun die enge Verbindung zu Maréchal Pétain.

De Brinon tut so, als hätte der Maréchal persönlich mit ihm gesprochen. Dabei hatte er weder eine Audienz bekommen noch wurde auf seine Briefe reagiert: Der alte Herr sitzt im siebten Stock des Turms und trotzt. Das geht schon seit Ende August so. Die Nazis hatten ihn, wie eine wertvolle Marionette, in Vichy eingepackt und hierher verfrachtet, ins „Schloss des Verrats“ wie die Résistance-Presse die Hohenzollern-Bude bald nennt. Pétain fühlt sich nicht wertgeschätzt. Aus Protest hat er sich schon am 20. August, als die SS im Hôtel du Parc die Tür zu seiner Suite eingetreten hatte, sehr, sehr langsam angezogen. Seither hat er alles offizielle Tun eingestellt, bis aufs Essen. Er isst viel, heißt es.

Premierminister Pierre Laval, ein Antimilitarist, den er verachtet, wie dieser ihn, und der im Schloss in der Etage unter ihm wohnt, aber den Aufzug nicht benutzen darf, streikt auch. Seine Frau Jeanne, der in den 1950er Jahren gequält, geköpft, erstickt, die Toten erscheinen, die ihr Mann verschuldet hat, hasst die Deutschen von klein auf. Sie hatte ihn bekniet, 1942 nicht wieder in die Kollaborationsregierung einzutreten, schreibt Fred Kupferman in seiner Laval-Biografie. Aber der Pazifist wähnt sich auf einer Friedensmission. Er dient dem Frieden, als er in Reden Hitlers Endsieg herbeiwünscht. Er dient ihm auch, als er für die Nazis die Deportation der Juden organisiert und dabei sicherstellt, dass Kinder ihre Eltern nach Auschwitz begleiten müssen.

Pierre Laval wähnt sich auf einer Friedensmission, als er in Reden Hitlers Endsieg herbeiwünscht

Das deutsche Essen schmeckt Laval nicht. Zum Glück hat er bei der Abreise außer dem Pelzmantel mit Geheimtasche für Zyankali – ein Geschenk von Stalin! – mehrere Millionen Bargeld in Francs und Dollar sowie geklaute Wertgegenstände aus dem Hôtel Matignon eingepackt. Plus, ganz wichtig!, Lucky Strikes und ­Baltos, seine Lieblingsmarke: Laval raucht Kette, vor allem wenn er nachdenkt. Und der Milchviehhalter und Anwalt tüftelt an seinem größten Plädoyer, dem für sich selbst. Ach!, später im Prozess wird es niedergeschrien; die Geschworenen versprechen ihm zwölf Kugeln in den Rücken; seine Verteidiger bleiben der Verhandlung in Paris fern. Nach fünf Tagen, am 9. Oktober 1945, ist das Urteil fertig. Wegen eines Suizidversuchs – warum lässt man ihm auch den Pelz! – findet die Hinrichtung erst am 15. statt: Bis ein Patient nach einer Magenspülung wieder fit ist, dauert es einfach.

Fernand de Brinon, Hitler-Groupie seit 1933, führt die Streikbrecher an. Die wollen im neoklassizistischen Prinzenbau unten in der City als Frankreichs Regierung in Deutschland regieren. Was, ist unklar, wie, noch unklarer. Und doch wollen Rivalen dem Marquis seinen Posten entwinden. Bloß, als es der Ex-Kommunist Jacques Doriot gerade geschafft hat, wird er im Auto auf dem Weg nach Sigmaringen, um die Regierungsgeschäftigkeiten an sich zu ziehen, am 22. Februar durch Maschinengewehrsalven vom Tiefflieger aus zerfetzt.

Noch aber steht de Brinon vorn. Dass man weiterhin dem politischen Ziel diene, das der Maréchal verkörpere, tönt er. Er tut so, als interessiere sich irgendwer für die 2,25 Millionen französischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in Deutschland, und nicht nur – auch eher am Rande – für die 65.000 Freiwilligen in SS, Miliz, Arbeitsdienst und ihre Familien. „So dienen wir Frankreich“, ruft er, und dafür harre man hier aus im Glauben ans Vaterland und die Versöhnung mit Deutschland und Gottes Segen und Bla und Blubb. Und zum Schluss: „Vive la France, vive le Maréchal!“

Schloss Sigmaringen oder auch: das „Schloss des Verrats“ Foto: imago

Danach wäre Platz für eine Hymne. Ob sie erklingt, und welche, ist nicht überliefert. Die Deutschen, denen es ja zu gefallen gilt, mögen die Marseillaise nicht. Das Vichy-Huldigungslied allerdings hätte komisch wirken können: „Nous voilà, Maréchal“, heißt es. Das soll bedeuten, wir stehen bereit. Aber Kontext verändert Bedeutung, und die Lage in Sigmaringen würde den Sinn in Richtung „so weit ist es also mit uns gekommen“ verschieben. Gut 2.000 regimetreue Fran­zö­s*in­nen haben hier Zuflucht gesucht. Der Radiosender Ici la Fance – Hier Frankreich – versorgt sie mit Propaganda. An sichtbaren Spuren gebe es eine Wandkritzelei im Schloss, sagt Gabriele Loges, „und sonst eigentlich nur das Grab von Pauline Bonnard“. Auf dem Friedhof ehrt ein Jeanne d’Arc-Relief die Mutter eines vergessenen faschistischen Dichters.

Ein anderes Kaliber ist Céline, also Louis Ferdinand Destouches. Der vom „Stürmer“ wegen seines exorbitanten Judenhasses gefeierte Autor wird heute in Frankreich mehr denn je verehrt. Er kommt im November in Sigmaringen an, im Schloss ist kein Platz mehr für ihn. In „D’un château l’autre“ entwirft er 1957 ein Fresko seiner Sigmaringen-Zeit. Das Buch enthält mehr Punkte als Worte und mehr Ausrufezeichen als Sätze, und es liest sich wie der einzigartige Versuch, sich mithilfe von Fäkalien reinzuwaschen, mit Pisse, Kot und Ausfluss. Den Ort nennt er konsequent „Siegmaringen“, ein Witz: Damit verspottet er die ausweglose Situation der Vichy- und Hitler-Getreuen. An Doriots Todestag steigen die Célines dann wieder in den Zug.

Es ist ein Startsignal. Wer eins der seltenen Autos hat, setzt sich jetzt ab. Die Nachrichten von Erschießungen, Prozessen und Lynchjustiz verleihen auch anderen Flügel. All die Mitläufer*innen, „die sind regelrecht verschwunden“, sagt Loges. Als die Armee eintrifft, ist fast keiner mehr da. Und fast keiner wird erschossen.

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