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Theater über Gesellschaft ohne ZukunftAufgang der Vergessenen

Das Nationaltheater Mannheim bringt mit „Der Grund. Eine Verschwindung“ eine vielschichtige, klug durchkomponierte Parabel auf die Bühne.

Zeitvertreib unter Wasser in „Der Grund. Eine Verschwindung“ am Nationaltheater Mannheim Foto: Natalie Grebe

Bereits nach den ersten zehn Minuten denkt man: ein Fiasko. Sich hölzern bewegende Figuren deklamieren hölzern klingende Sätze. „Wie spät ist es?“, wiederholt ein Jäger in Beckett’scher Manier, bevor er, wie eine andere Figur bekundet, zu masturbieren beginnt. Sind wir also wieder mit einem postmodernen Theaterabend konfrontiert, der nichts anderes als die Absurdität des Daseins zu bebildern sucht? Könnte man meinen.

Aber dann! Dann kommt das Stück „Der Grund. Eine Verschwindung“ unter der Regie von Pablo Lawall am Nationaltheater Mannheim in Fahrt und es entsteht ganz großes Theater. Mehr und mehr wird stellt sich heraus, dass wir es mit einer vielschichtigen, klug durchkomponierten Parabel zu tun haben.

Im Zentrum steht ein vielen Rückkehrern aus dem Italienurlaub bekannter Ort, nämlich der Stausee am Reschenpass. Nachdem dafür das einstige Dorf Graun geflutet wurde, ragt noch heute ein Kirchturm aus dem Wasser. Das Au­to­r:in­nen­duo Ivana Sokola und Jona Spreter wagt derweil den Blick unter die Oberfläche und erzählt von einigen Menschen (Sarah Zastrau, Almut Henkel u.a.), die noch immer ihre versunkenen Häuser bewohnen.

Stehen geblieben in der Zeit und fernab allen spät modernen Trubels, gehen sie ihrem ritualisierten Alltag nach und treffen sich in der Backstube, einem verstaubten 60er-Jahre-Interieur mit Plastikstühlen und schnörkellosen Holztischen. Im Hintergrund schauen wir durch ein Fenster mit Lamellen auf den besagten Kirchturm. Zu dieser höchst artifiziellen Sphäre passen natürlich die automatenhaften Gesten zu Beginn, die erst ein Ende finden, als den Be­woh­ne­r:in­nen der Unterwasserwelt angetragen wird, endlich aufzutauchen – ein zunächst verlockendes Angebot, das ebenso ein intensives Spiel zwischen den Protagonisten einleitet.

Sie unterhalten sich über Erinnerungen an früher, träumen vom Urlaub in der Südsee, von trockenen Behausungen. Nur wollen die „Vergessenen“ überhaupt ihren Behaglichkeitskokon verlassen? Genau an dieser Frage entfalten sich diverse Deutungsmöglichkeiten. Die offensichtlichste forciert eine lethargische Gesellschaft. Aus Angst vor den Unwägbarkeiten über dem Wasserspiegel verharrt sie in der dauerhaften Gegenwart.

Einst haben ihre Mitglieder Widerstand gegen den Schaufelbagger-Kapitalismus geleistet. Nun ist ihnen ihre Zukunft abhandengekommen. Insbesondere die Schlussszene dokumentiert die Folgen jenes Stillstandes. Sind letztendlich die meisten Be­woh­ne­r:in­nen oben angekommen, landen sie als Exponate in einem Museum, als verstaubte Figuren einer untergegangenen Ära.

Nicht in selbstzirkulären Diskursblasen verharren

Weitaus subtiler als diese Großmetapher auf unser soziales Gefüge, das in Zeiten der Krise die Aussicht auf ein besseres Morgen aufzugeben droht, fällt die in dem Arrangement angelegte Selbstreflexion des Theaters aus. Dass alles, was wir sehen, Schauspiel und damit Erfindung ist, gibt von Anfang an ein dünner Vorhang zu erkennen. Mehrfach zieht ihn die Museumsdirektorin (Maria Munkert) vor der klassischen Guckkastenbühne auf und zu.

Dahinter werden wir eines Ensembles gewahr, das – im übertragenen Sinne und mit typisierten Figuren wie der Bankangestellten, der Bäckerin oder dem Jäger – Altbewährtes und Klassi­kerzitate zum Besten gibt.

Es ist ein Theater, das nur sich selbst zum Maßstab nimmt. Sobald es sich den Wünschen des Publikums hingibt, seine Akteure sinnbildlich an der Oberfläche auftauchen, wird es Kommerz, wird es konsumierbar wie Ausstellungsstücke.

Soll die Bühne also nur sich selbst vertrauen oder sich doch öffnen, um nicht in selbstzirkulären Diskursblasen zu verharren? Diese sind nur einige Überlegungen an einem Abend voller Denkimpulse, der durch Intelligenz und Fabulierlust besticht.

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