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Fluchtgefahr als HaftgrundNicht alle sind gleich

Aus­län­de­r:in­nen müssen häufiger als Deutsche monatelang in Untersuchungshaft auf ihren Prozess warten. Und das teilweise wegen Delikten wie Ladendiebstahl.

Kein Ort, an dem man gerne länger bleibt: die JVA in Leipzig Foto: Sebastian Willnow/dpa/picture alliance

Stille herrscht an diesem Tag Anfang Mai im Gerichtssaal des Chemnitzer Landgerichts. Nicolas* betritt in Handschellen den Saal, links und rechts von sich jeweils ein Justizbeamter. Mit gesenktem Kopf schlurft er zu seinem Sitz auf der Anklagebank. Dann werden ihm die Hände befreit. Der Prozess beginnt.

Zum ersten Mal seit über vier Monaten hat Nicolas an diesem Morgen die Mauern der Justizvollzugsanstalt in Leipzig verlassen. Im Januar wurde er in Chemnitz zusammen mit seiner Freundin beim Klauen einer Handtasche und eines Pullovers erwischt. Der Gesamtwert der gestohlenen Waren: 58 Euro.

Nicolas ist Tscheche. Er hat keinen Wohnsitz in Deutschland und so bestand laut dem Haftrichter die Gefahr, er könnte in seine Heimat flüchten, um sich der Strafverfolgung zu entziehen. Direkt am nächsten Morgen lieferte man Nicolas zur Untersuchungshaft in die JVA Leipzig ein. Seine Freundin verbrachte ebenfalls einige Tage in Untersuchungshaft. Doch der Wohnsitz ihrer Mutter in Deutschland ermöglichte es ihr, unter Auflagen freizukommen. Einmal pro Woche hatte sie sich daraufhin bei der Polizei zu melden.

Haft­rich­te­r:in­nen dürfen eine Untersuchungshaft, also die Inhaftierung eines noch nicht verurteilten Beschuldigten, nur in Ausnahmefällen anordnen. Dafür gibt es gute Gründe: Nur die Hälfte der Untersuchungshäftlinge erhält später eine Haftstrafe. Um Untersuchungshaft anordnen zu können, muss zum Beispiel die Gefahr bestehen, dass Beschuldigte Beweise manipulieren, Zeugen einschüchtern oder die Tat wiederholen könnten. In 95 Prozent der Fälle geben die Richter jedoch Fluchtgefahr als Haftgrund an. Ein Wohnsitz im Ausland oder nur Auslandskontakte gelten als fluchtbegünstigend.

„Richter begründen ihre Entscheidung häufig damit, dass die Beschuldigten in leicht löslichen Wohnverhältnissen leben“, erklärt Lara Möller von Justice Collective. Wie im Fall von Nicolas betreffe das vor allem Menschen ohne Wohnsitz oder Familie in Deutschland. Der Verein aus Berlin beobachtet Strafprozesse von Massendelikten, also häufig begangenen Straftaten, um Diskriminierungen aufgrund von Armut und Rassismus zu dokumentieren.

60 Prozent verbringen drei Monate oder länger in U-Haft

Ausländische Beschuldigte müssen häufiger als deutsche auch bei Massendelikten wie Diebstahl mit Untersuchungshaft rechnen. 60 Prozent der 12.000 Untersuchungshäftlinge in deutschen Gefängnissen sind laut Strafverfolgungsstatistik Ausländer:innen, obwohl sie nur 30 Prozent aller Beschuldigten ausmachen.

Um eine Entscheidung über Untersuchungshaft treffen zu können, greifen viele Rich­te­r:in­nen auf „Erfahrungswissen“ zurück. Dies gründet sich manchmal auf Statistiken, viel häufiger jedoch auf persönlichen, wissenschaftlich nicht überprüfbaren Alltagstheorien. Aus­län­de­r:in­nen fliehen demzufolge mit einer höheren Wahrscheinlichkeit. Möller kritisiert diese Praxis als voreingenommen.

Nicolas musste bis zu seinem Gerichtsprozess gut vier Monate in Untersuchungshaft ausharren. Auch das ist Alltag: 60 Prozent der Untersuchungshäftlinge verbringen drei Monate oder länger in Haft. Bis zu sechs Monate darf eine Person in Untersuchungshaft genommen werden, bei 30 Prozent der Untersuchungshäftlingen kommt es sogar zu einer Verlängerung dieses Zeitraums. Die Zeit wird letztlich auf die endgültige Strafe angerechnet. Wer freigesprochen wird, kann für die Zeit in Gefangenschaft Schmerzensgeld verlangen.

Für Nicolas, der plötzlich vier Monate aus seinem Leben gerissen wurde, war das Schlimmste die Ungewissheit. „Hier drinnen weißt du nicht, was passieren wird und wann du wieder rauskommst“, erzählte er eine Woche vor seinem Gerichtstermin am Telefon. „Ich zähle nur noch die Tage.“ Nur zwei Stunden am Tag sei seine Zelle aufgeschlossen worden, damit er andere Gefangene treffen könne. Manchmal habe er ferngesehen, aber da er kein Deutsch spricht, verstand er nichts.

Die Bedingungen in der Untersuchungshaft sind harscher als in der tatsächlichen Strafhaft. Anders als für verurteilte Gefangene gibt es kaum Freizeitangebote, Arbeit oder Sozialprogramme. Und das, obwohl für Nicolas weiterhin die Unschuldsvermutung gilt.

Die Annahme einer Fluchtgefahr trifft nur selten zu

In Nicolas’ Fall kamen weitere Einschränkungen seiner Freiheiten hinzu. Laut der Staatsanwaltschaft bestand die Gefahr, er könnte mit seiner Freundin eine Flucht oder eine weitere Tat planen oder Beweise vernichten. Also ordnete sie eine besondere Überwachung jeglicher Kommunikation wie Briefe, Besuche und Telefonate an – laut Nicolas’ Pflichtverteidiger eine gängige Praxis bei Mittäterschaft.

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Da Nicolas auf Tschechisch mit seiner Familie und seinen Freun­d:in­nen kommuniziert, musste demzufolge jede Unterhaltung von der Staatsanwaltschaft übersetzt werden. Da dies einen Mehraufwand bedeutet hätte, lehnte die Staatsanwaltschaft seinen Antrag auf ein Telefon zunächst ab. Erst nach drei Monaten wurde dem stattgegeben.

Untersuchungen zeigen, dass die Annahme einer Fluchtgefahr nur selten zutrifft. Von 169 Angeklagten, bei denen das Gericht Fluchtgefahr vermutete, die jedoch trotzdem freigelassen werden mussten, flohen nur 14.

Zwar zeigen die Daten, dass bei Personen ohne deutschen Wohnsitz eine höhere Fluchtgefahr besteht, doch wird in den Rechtswissenschaften kritisch diskutiert, ob die Rückkehr eines Straffälligen in seinen EU-Wohnsitzstaat als Flucht angesehen werden kann. Da Diebstahl auch in Tschechien strafbar ist, könnte die Verfolgung von Nicolas Straftat an den EU-Mitgliedsstaat übergeben werden. In der Praxis geschieht dies jedoch selten.

U-Haft muss im Verhältnis zur Schwere der Tat stehen

Im Sitzungssaal 3.004 des Landesgerichts in Chemnitz verliest die Richterin die Anklage: räuberischer Diebstahl und Körperverletzung sowie Diebstahl in einem weiteren Fall. Im Laufe der Ermittlungen ausgewertete Videoaufnahmen zeigten, wie Nicolas und seine Freundin am selben Tag auch Parfüms gestohlen hatten.

Der Grund für den Tatbestand Raub und Körperverletzung: Ein Ladendetektiv gab zu Protokoll, dass Nicolas, beim Versuch zu fliehen, handgreiflich geworden war. Nicolas streitet ab, sich gewehrt zu haben. „Ohne den Detektiv kann ich nichts entscheiden“, erklärt die Richterin. Dieser ist als Zeuge geladen, aber weder erschienen noch telefonisch erreichbar.

Wie es jetzt weitergeht? Das klären Richterin, Staatsanwaltschaft und Verteidigung in einer kurzen Pause von ungefähr zehn Minuten. Nicolas bekommt in der Zeit Handschellen angelegt und die Justizbeamten verfrachten ihn in eine Zelle im Keller. Bei Untersuchungshäftlingen ein übliches Sicherheitsprozedere.

Laut deutschem Gesetz ist die Untersuchungshaft nur dann zulässig, wenn sie in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere und Bedeutung der Tat sowie der möglichen Strafe steht. Mehr als ein Drittel aller Personen in Untersuchungshaft werden aber lediglich des Diebstahls beschuldigt. Immer wieder müssen Beschuldigte aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil das Verfahren und dementsprechend die Haft bereits länger andauert als die zu erwartende Strafe.

8 Prozent der Untersuchungshäftlinge werden freigesprochen

Nur 50 Prozent der Beschuldigten in Untersuchungshaft werden später tatsächlich zu einer Haftstrafe verurteilt. Fast 30 Prozent der Untersuchungshäftlinge werden nach dem Verfahren auf Bewährung freigelassen. 10 Prozent erhalten eine Geldstrafe und weitere 8 Prozent werden entweder freigesprochen oder das Verfahren wird eingestellt.

Auch Nicolas wird an diesem Vormittag nicht zu einer Haftstrafe verurteilt. Trotz fragwürdiger Beweislage verkündet die Richterin eine Bewährungsstrafe von neun Monaten für räuberischen Diebstahl, Körperverletzung und Diebstahl. „Es gibt keinen Anlass, warum der Detektiv falsche Angaben gemacht haben soll“, erklärt sie ihre Entscheidung.

Lara Möller vom Justice Collective ist über das Urteil wenig überrascht: „Häufig wird schriftlichen Protokollen von Ladendetektiven vor Gericht mehr Glaubwürdigkeit geschenkt als nichtdeutschen Angeklagten.“

Dass Nicolas vier Monate seiner Freiheit beraubt wurde, spielt in dem Verfahren keine große Rolle, außer in der mahnenden Aussage der Richterin, die die vier Monate als „genug Abschreckung“ bezeichnet.

Untersuchungshaft verletzt routinemäßig die individuellen Freiheitsrechte von Beschuldigten wie Nicolas. Und das, obwohl Haft­rich­te­r:in­nen auch auf Ersatzmaßnahmen wie regelmäßigen Meldungen bei der Polizei zurückgreifen könnten.

Diese wären jedoch mit mehr Aufwand verbunden und finden meist nur dann Anwendung, wenn sich ein:e An­wäl­t:in dafür einsetzt. Und das, obwohl ein Häftling den Steuerzahler laut offiziellen Zahlen aus dem Jahr 2021 im Schnitt 180 Euro pro Tag kostet – eine Summe, die inzwischen höher sein dürfte.

Hätte Nicolas auf die Zeugenaussage des Detektivs bestanden, wäre es zu einem weiteren Gerichtstermin gekommen. Bis dahin hätte Nicolas allerdings zurück in die Enge und Einsamkeit seiner Zelle gemusst. An einen Ort, den er zutiefst verabscheut und dessen Demütigung er nie wieder erfahren möchte.

* Aufgrund seiner Geschichte möchte Nicolas seinen Nachnamen nicht in der Öffentlichkeit sehen.

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