Sex-Kolumnen an der Berliner Volksbühne: „Fickt euch!“ als Lifestyle
Frauen haben patriarchale Zwänge und Ausbeutung satt. Das wird bei einer Lesung von Sex-Kolumnen aus dem „Missy Magazine“ in der Volksbühne deutlich.
Fickt Euch! Fickt Euch! Fickt Euch!“ plärren die neon-gelben Plakate an der Fassade der Volksbühne. Provokant? Nicht für die Berliner Jugend, die am Mittwochabend mit Vokuhila, in Bomberjacke und Adidas-Tracksuits auf den Stufen der Volksbühne hocken. Piccolo in der einen, Zigarette in der anderen Hand, genießen sie die laue Spätsommernacht, bevor sie in den 50er-Jahre-Bau treten, wo Dildos in Eiscremeform und must-reads, wie „The ultimate guide to anal sex for men“ warten.
„Wir kennen kein Shaming. Keine Tabus!“, ruft Amina Aziz, Co-Chefredakteurin des feministischen Missy Magazines und Moderatorin des Abends. Auf der Leinwand hinter ihr haben zwei animierte Personen Sex, eine Discokugel taucht den Roten Salon in tanzende Lichter. „Das ist für eine Leserschaft, die abseits von Dr. Sommer in der Bravo, Brigitte oder Vogue über Sex lesen will“, sagt Aziz. Und die scheint groß zu sein: Der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. 800 Personen warten gierig auf die Lesung aus der Sex-Kolumnensammlung „Fickt Euch!“ des Missy Magazines.
„Es geht um Sex mit Behinderung und chronischer Erkrankung, um Schwarze und dicke Körper, Sexarbeit, Hämorrhoiden und darüber, bottom zu sein“, kündigt Aziz an. Als erste betritt Mithu Sanyal, Autorin und Aktivistin, die Bühne mit einem pinken Vulva-Hut, der in Flammen steht. „It’s on fire!“, ruft sie begeistert.
Seit der Veröffentlichung ihres Buches „Vulva“ im Jahr 2009 habe sich einiges geändert. „Heutzutage fragen nur noch die wenigsten, ob das ein Fluss in Russland ist, über den ich schreibe“, bemerkt Sanyal trocken. In ihrem Text klärt sie über den Mythos Jungfernhäutchen auf: „Es wird dargestellt, als gäbe es eine Plastikplane davor – wie Früchte, die im Supermarkt mit einer Plastikfolie umspannt sind, um zu beweisen: Die hat noch keiner anderer angefasst“, sagt sie lachend.
Warum stigmatisieren?
Mit ihr auf der Bühne sitzt Mean Goddess. Die Domina erzählt: „Mit 7 Jahren habe ich angefangen, auf Vox nach 23 Uhr Softporn zu ballern.“ Mit sanfter Stimme liest sie, umgeben von elektronischen Kerzen, auf der in Rauch gehüllten Bühne: „Dämonen, böse Geister, Okkultes, der Teufel und alles Paranormale haben mich schon immer extrem angezogen.“ Warum stigmatisieren? „It’s just a fantasy.“ Ihre größte Fantasie: „Als überdimensionaler Mean-Goddess-Dämon cis het men verschlingen, wie die lächerlichen Snacks, die sie sind.“
Die Vorstellung wird mit tosendem Applaus belohnt – der weiter zunimmt, als die Bühne vom Black Sex Workers Collective übernommen wird, einer Initiative, die sich für die Gleichberechtigung von Sexarbeiter*innen einsetzt. „Wir werden sowieso sexualisiert, warum sollten wir uns nicht selbst sexualisieren? Wir beuten die Ausbeutung durch weiße Vorherrschaft und cis-heteronormative Strukturen selbst aus“, erklingt eine Stimme, während eine Frau in leuchtendem orangem Dessous sich geschmeidig auf der Bühne bewegt.
Frech, rotzig, chaotisch und ungeniert
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Aus den Lautsprechern dröhnt die US-amerikanische Sängerin Billie Eilish: „I wanna try it, bite it, lick it, spit it!“ In dem Lied wird sie gefeatured von der britischen Sängerin Charli XCX, die nach dem Titel ihres Albums „brat“ den „brat summer“ (Gören-Sommer), ausrief: frech, rotzig, chaotisch und ungeniert.
Brat ist auch Laura Méritt, die Berlins ältesten Sexshop „Sexclusivitäten“ in Kreuzberg betreibt. „Sex ist noch immer so normiert. Wir müssen uns dekonditionieren und für uns selbst definieren, was uns glücklich macht“, sagt die Sexologin und Autorin. In ihrem Text spricht sie über Analduschen und sicheren Anal Sex, damit man „unbekümmert rumschlabbern und zur Möse wandern kann“. Méritts Fazit: „Am Ende ist eh alles für den Arsch.“
Nachdem Hengameh Yaghoobifarah, langjähriger Betreuer der Sexkolumne, abschließend den Text „Fagdyke“ über schwulen Sex als Lesbe, vorliest, stürmen die Rapperinnen Bounty und Cocoa auf die Bühne. Mit ihrem Track „Macht Platz für die Bitches!“ bringen sie den Saal zum Beben. Es ist ein gebührender Abschluss vom „brat summer“. Charli XCX wäre stolz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“