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Mutmaßungen über Bruno

Zehn Jahre hat Inka Parei an ihrem vierten Roman, „Humboldthain“, gearbeitet. Ihr multiperspektivisches Gruppenporträt eines Traumatisierten ist ein ambitionierter Beitrag zur deutschen Seelenkunde

Der Flakturm Humboldthain im ehemals „roten Wedding“ Foto: imago

Von Kurt Darsow

Inka Pareis erster Roman „Die Schattenboxerin“ hatte das Glück des richtigen Moments. „Dreck, viel Dreck“ attestierte die Zeit dem hochgelobten Gruselstück aus dem Jahr 1999, als die desolate Riesenbaustelle Berlin gut situierte Bundesbürger eine Zeit lang magisch anzog. Fünfundzwanzig Jahre später ist von der ebenso faszinierenden wie abstoßenden „Schrottstadt“ nichts mehr übrig. Zarte Pastelltöne lassen ihre räudigen Fassaden in verlogenem Glanz erblühen. Wenn doch wenigstens die vielen Neubauten das ersehnte Weltniveau aufweisen würden. „Sanierung“ heißt die verräterische Vokabel für diese Form der Stadtbildpflege.

Schade, dass auch Inka Parei in ihrem ambitionierten Gruppenporträt „Humboldthain“ diesen affirmativen Weg beschreitet. Dabei ist der titelgebende Schauplatz im ehemals „roten Wedding“ durchaus gut gewählt. Die aus einem begrünten Schuttberg unweit des Bahnhofs Gesundbrunnen ragenden Reste des legendären Flakbunkers gehören zu den wenigen Gedenkorten in Berlin, denen heute noch der brandige Geruch des Krieges anhaftet. Tief im Innern der meterdicken Mauern aus Stahlbeton sind sogar noch brüchige Treppenhäuser, geschwärzte Mauern und chaotische Schuttberge aus finsteren Zeiten vorhanden, die Hobbyhistoriker zu halsbrecherischen Besichtigungstouren ermutigen.

War es ein guter Einfall, dass die Autorin den Sozialpädagogen Bruno hier ins Bodenlose stürzen lässt? „Flakturm 3, denkt er. Dort liege ich jetzt, ganz unten, an seinem Grund.“ Besonders glaubwürdig ist das nicht, dass ein Schwerverletzter in dieser Situation den Nerv haben sollte, sein verworrenes Leben zu ordnen. Wer Schmerzen erdulden muss, hat wenig Sinn für wohlgesetzte Worte. Doch die Autorin lässt ihm keine andere Wahl. Er ist auf Gedeih und Verderb ihrem Propädeutikum ausgeliefert: Warum laufen notorisch unzuverlässige Männer wie Bruno immer davon? Was bringt sie dazu, Beziehungen zu wechseln wie Kleider? Kann schonungslose Selbstbefragung diesem Defekt beikommen? Inka Parei ist davon überzeugt, aber ihre Tiefenanalyse steht auf schwachen Füßen.

In der Zwangsjacke seiner Verletzungen gedenkt der Abgestürzte wehmütig der Wohnung am Rosenthaler Platz, in der er mit seiner Frau Ina und dem kleinen Sohn Julius ein ungetrübtes Familienglück genießen durfte. Oder ist es nur der süße Wahn der Erinnerung, der ihm die goldenen Tage vorspiegelt? Deren genuines Geschäft dürfte eher Selbsttäuschung als Selbstfindung sein. Doch durch erkenntnistheoretische Skrupel dieser Art ist die Autorin nicht zu beirren. Kaum hat der Proband mit seiner Introspektion angefangen, lässt ihn auch schon ein allseits bekanntes schmirgelndes Geräusch aufhorchen: „Nicht nur er, Bruno, ist hier drinnen eingeschlossen. Sondern Julius ebenfalls. Und dazu noch mehrere andere, mit denen sein Sohn diese Aufnahme gemacht hat.“

Der unvermeidliche deus ex machina also sorgt bei Inka Parei dafür, dass gewisse Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit nicht überhand nehmen, die schon den Großmeistern des modernen Romans zu schaffen machten: Brunos erwachsener Sohn Julius und weitere Beiträger bringen sich – gemessen an den Klassikern der Multiperspektivität – auf eher einfallslose Weise per mobile phone in sein Selbstgespräch ein.

In der Megacity New York hat Bruno sich eine Zeit lang aufgehalten. Als gewohnheitsmäßiger Aufschneider hat er sich sogar damit gebrüstet, beim Einsturz des World Trade Center Erste Hilfe geleistet zu haben: Alles gelogen, findet der Filius Julius in der Stadt der Türme heraus. Nur um ihn zu beeindrucken, hat Bruno sich mit erfundenen Heldentaten geschmückt.

„Nicht therapierbar“, sagen die Experten bei psychologischen Altlasten dieser Art. Doch seine nachsichtige Ehefrau Ina und eine engagierte Paartherapeutin sorgen dafür, dass Bruno zu guter Letzt dennoch aus dem Sumpf seiner Verstrickungen gelangt. Bis dahin sind freilich noch verschlungene Wege zurückzulegen. Zwischen Bornholmer Brücke und Oberschöneweide müssen sämtliche Orte abgeklappert werden, die im Leben des Probanden eine Rolle gespielt haben. Schließlich lösen sich die seelischen Verletzungen, die ihn zu dem gemacht haben, der er ist, in Wohlgefallen auf. Wie abzusehen war, ist ihm in jungen Jahren etwas Markerschütterndes passiert. Doch die finale Leichenschau überlässt Inka Parei zum Glück dem deutschen Fernsehen.

Vermag sie stattdessen das Potenzial auszuschöpfen, das in der titelgebenden Metapher „Humboldthain“ steckt? Gedenk­orte sind keine Erinnerungsorte. Sie rekapitulieren Namen, Daten, Ereignisse, aber sie bringen sie nicht zum Sprechen. Inka Parei lässt ihren Protagonisten Bruno zwar in Flakturm 3 ins Bodenlose stürzen, aber in der dortigen Zwangslage ist er nur mit sich selbst beschäftigt. Dass um ihn herum noch andere Stimmen vernehmbar sein könnten als digital gespeicherte, kommt ihm nicht in den Sinn. Sie hätten ihn mit Traumatisierungen bekannt machen können, die unauslöschlich sind. Dass sie auch heute noch nachwirken, geht täglich aus den Nachrichten hervor: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, schrieb William Faulkner.

Inka Parei: „Humboldthain“. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2024, 283 Seiten, 26 Euro

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