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Sowjet-Filmklassiker „Arsenal“Wie man zum Lokführer wird

Der ukrainische Regisseur Oleksandr Dowschenko zeigt in seinem sowjetischen Film „Arsenal“ eine umkämpfte Ukraine. Film und der Künstler sind komplex.

In Oleksandr Dowschenkos Film „Arsenal“ sehen sich die Soldaten beider Seiten sehr ähnlich Foto: Arsenal

Dass ein fast 100 Jahre alter Stummfilm für ein bis auf den letzten Platz gefülltes Kino sorgt, ist ein eher seltenes Ereignis. Zur Vorführung von Oleksandr Dowschenkos „Arsenal“ (1928) über die sogenannte Arsenalwerk-Revolte von 1918 kam am Donnerstag jedoch ein sehr großes und in erster Linie junges Publikum in das Berliner Kino Arsenal. Dieses heißt nicht zufällig wie der Film des Abends, bei seiner Eröffnung 1970 stand Dowschenkos Werk für die Namensgebung Pate. Durch den andauernden Krieg Russlands gegen die Ukrai­ne hat der Film wieder traurige Aktualität erlangt.

Den 130. Geburtstag des Regisseurs nahmen das Kino und das Ukrainische Institut in Deutschland zum Anlass für eine Vorführung mit neuer musikalischer Begleitung durch den Multiinstrumentalisten Guy Bartell. Zudem gab es ein Gespräch mit der Filmwissenschaftlerin Anna Onufriienko vom Dowschenko-Zentrum in Kyjiw und ihrer Kollegin Barbara Wurm, Leiterin der Berlinale-Sektion Forum, die vom Arsenal betrieben wird. Das Gespräch sollte sich als hilfreich erweisen, ist „Arsenal“ doch ein vieler Hinsicht verwirrender Film.

Im frühen Stalinismus entstanden, war „Arsenal“ als Propagandafilm konzipiert. Er zeigt allerdings weniger, wie ursprünglich geplant, den Sieg der Roten Armee in Kyjiw, als vielmehr eine unübersichtliche Lage im Land. Soldaten kehren aus dem Ersten Weltkrieg als Deserteure zurück. Diese waren zunächst mit der Armee des russischen Zaren in den Kampf gezogen und finden sich nun in der Ukrainischen Volksrepublik wieder, die 1917 ausgerufen worden war. Bolschewiken kämpfen darin gegen die Ukrai­nische Volksarmee.

Seit 300 Jahren von den Russen gequält

Als wäre das nicht genug, gibt es im Film auch deutsche Truppen, und um die Sache noch zu komplizieren, kostümiert Dowschenko die ukrainischen und die bolschewistischen Kämpfer so ähnlich, dass man ohne genaueste historische Kenntnisse kaum weiß, wer gerade gegen wen kämpft. Allein in einzelnen Szenen machen die Texttafeln die Lager deutlich.

Besonders markant der Moment, in dem ein Mann von einem anderen verlangt: „Her mit unserem ukrainischen Mantel, Feind! Her mit unseren ukrainischen Stiefeln.“ Und zur Eindeutigkeit setzt er noch hinzu: „Seit 300 Jahren hast du mich gequält, verdammter Russe.“

Das Ringen um die ukrainische Identität ist ein Faden, der sich durch den Film zieht, der andererseits alles andere als geradlinig erzählt ist. Stattdessen arbeitet Dowschenko mit an Standbilder erinnernden Einstellungen. Ein besonders eindrückliches Bild ist das einer Mutter, die reglos in einer verlassenen Küche steht. Der geometrisch verwinkelte Raum lässt den Einfluss des deutschen Expressionismus von Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ oder Friedrich Murnaus „Nosferatu“ erkennen.

Propagandistischer Auftrag nur zum Teil erfüllt

Auch Käthe Kollwitz, bei der Dowschenko in den frühen zwanziger Jahren in Berlin studierte, wie Anna Onufriienko im Gespräch erwähnte, ist als Einfluss zu erkennen. So in einer frühen Szene, in der ein deutscher Soldat auf einem von gefallenen Kämpfern übersäten Feld sein Gesicht zu einer Fratze verzerrt und ein markant unvollständiges Gebiss entblößt.

Anna Onufriienko und Barbara Wurm hoben die Ästhetik als eines der politischen Elemente des Films hervor, der in den Mitteln eben nur zum Teil seinen propagandistischen Auftrag erfüllte. Die unklare Erzählung und die vielen Anleihen beim Expressionismus sind Elemente, die Dowschenko denn auch den Vorwurf des Formalismus einbrachten. 1937 wurde der Film verboten, so Onu­friien­ko. Und dennoch, ergänzte Wurm, konnte im Film bis dahin gesagt werden, dass Russland die Ukraine 300 Jahre lang unterdrückte.

Nicht zu vergessen der schwarze Humor, den Dowschenko in die Geschichte einarbeitete. So kapern Bolschewiken einen Zug, werfen den ukrai­nischen Zugführer hinaus und machen sich auf nach Kyjiw. Unterwegs stellt einer die Frage, wie man den Zug lenkt. Anscheinend verfügt niemand der Mitfahrenden über die nötige Erfahrung, der Zug entgleist. Aus den Trümmern erhebt sich als mutmaßlich einziger Überlebender der ukrainische Arbeiter Timosch. Sein Kommentar: „Ich werde Lokführer.“

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