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Lyrik von Jürgen TheobaldySegnen ohne Weihrauchfass

Die direkten, popkulturell anspielungsreichen Gedichte von Jürgen Theobaldy wirkten in den Siebzigern befreiend. Ein neuer Sammelband erinnert an ihn.

Der Dichter Jürgen Theobaldy, hier auf einem Foto von 1998 Foto: Alessandro Della Valle/Keystone/picture alliance

Einer seiner frühen poetologischen Essays aus den Siebzigern trägt den vielsagenden Titel „Das Gedicht im Handgemenge“. Jürgen Theobaldy geht mit den studentischen Revoluzzern auf die Straße und lässt sich von Wasserwerfern nass machen, doch er will sich nicht vor jedem linken Kader rechtfertigen müssen, warum er trotzdem noch Poesie schreibt. Seine Lyrik ist politisch, aber eben auch privat. Bevor es den Spontispruch gab, hat Theobaldy bereits in seinen Texten illuminiert, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt.

Speziell für dich

Weil du gern Pflaumenmus magst

hab ich heute Pflaumenmus gekauft

Ich nahm mir ein Herz

trat hinein in den Delikatessenladen

und kaufte „Pflaumenmus – Pflückfrisch!“

O komm vorbei! Du kannst

die Schalen noch schmecken die Kerne

selbst Stängel und kleinere Zweige!

Das offene, erweiterte Realismuskonzept der US-Beat-Poeten und ihrer Nachfolger Frank O’Hara oder Ron Padgett liefern die Vorlage. Alles kann Platz finden in einem Gedicht, sogar ein Glas Marmelade, wenn man es nur genau genug beobachtet und beschreibt. Die Anspielung auf das berühmte Pflaumengedicht („This Is Just to Say“) vom Vater der Beats, William Carlos Williams, ist offensichtlich und zeigt darüber hinaus mit feiner Ironie, wie sich Theobaldy literarische Traditionspflege vorstellt: Er macht sie zu Mus.

Zeitgenössische Dichtung müsse den Abstand zwischen Erlebnis und Form verringern, also versuchen, „das Gedicht an seinen Gegenstand heranzuschieben, es ihm auf den Körper zu schreiben“. Als Theobaldy diesen Appell formuliert, im Nachwort von „Und ich bewege mich doch“, einer von ihm herausgegebenen Anthologie von Gedichten „vor und nach 1968“, hatte er das bereits in zwei Lyrikbänden erprobt.

Der zweite, „Blaue Flecken“, noch so ein hübsch mehrdeutiger Titel, erscheint in der angesagten Rowohlt-Reihe „Das neue Buch“ und macht ihn – verdientermaßen – neben Rolf Dieter Brinkmann, Wolf Wondratschek und Nicolas Born zu einem der Frontleute der lyrischen Avantgarde, die schon bald als „Neue Subjektivität“ verschlagwortet wird.

Das Buch

Jürgen Theobaldy: „Nun wird es hell und du gehst raus. Ausgewählte Gedichte“. Wallstein Verlag, ­Göttingen 2024, 293 Seiten, 29 Euro

Blues aus Bayern

Mein Großvater war ein rollender Stein

er rollte die Alpen herab

zog eine breite Spur durch München

pflanzte keinen Baum las kein gutes Buch

tötete seinen ärgsten Feind nicht

machte sieben Kinder und verschwand

hinter dem Bodensee in der Schweiz

in einem kalten ausgeräumten Zimmer

mit nichts als einer Menge Bierflaschen

auf dem Boden neben der Matratze

Man kann mit dem Blick von heute vermutlich nicht mehr richtig ermessen, wie befreiend in den frühen Siebzigern solche Töne gewesen sein müssen. Diese Gedichte laufen nicht leer im formalen Experiment und kommen ganz gut ohne akademische Abschlüsse aus. Vor allem jedoch sind viele so eingängig, dass sie selbst zu Songs werden können. „Blues aus Bayern“ wird von Achim Reichel vertont auf seinem Album „Ungeschminkt“.

Die Einfachheit ist Kalkül. „Ich möchte gern ein kurzes Gedicht schreiben / eins mit vier fünf Zeilen / nicht länger / ein ganz einfaches / eins das alles sagt über uns beide / und doch nichts verrät / von dir und mir“. Man darf aber auch den Anspielungsreichtum dieser Lyrik nicht unterschätzen. Es schwingen nur eben noch andere als die üblichen literarhistorischen Resonanzböden mit – popkulturelle natürlich.

Klaglos in die zweite Reihe

Theobaldy kommt aus der Malocherstadt Mannheim. Er hat dort die hektografierte Underground-Literaturzeitschrift Benzin herausgegeben, und als die Gegenkultur für ein paar Jahre lang Mainstream-tauglich wird, zieht er nach Westberlin, wo die anderen wilden Kerle wohnen. An der Seite von F. C. Delius, Hermann Peter Piwitt, Hans Christoph Buch und seinem Freund Nicolas Born mischt er eine Weile ziemlich gut mit im Literaturbetrieb.

So ganz geheuer ist dem ehemaligen Plebejer dabei allerdings nie. Als die „Alltagslyrik“ im Laufe der achtziger Jahre abgelöst wird von postmodernen Schreibweisen, die wieder deutlicher das Artifizielle in den Mittelpunkt rücken, stellt er sich denn auch klaglos zurück ins zweite Glied.

Dabei hatte sich Theobaldys Lyrik in der Zwischenzeit ebenfalls weiterentwickelt. Den freien prosanahen Zeilen seiner Anfänge folgen metrisch stärker gebundene und auch sprachlich amplifiziertere Verse, die allerdings immer noch erstaunlich aufnahmefähig sind für ganz unterschiedliche Erfahrungen. Es sind Reise-, Natur- und Widmungsgedichte an Maler, Schriftsteller oder an den Ausnahmesportler Jesse Owens darunter, aber auch biografische Selbsterkundungen wie die halb­ironisch-melancholische Skizze über seinen Teilzeitjob als Protokollant im Schweizer Parlament.

Tatsächlich geht sein allmählicher Abschied vom Literaturbetrieb mit einem räumlichen Rückzug nach Bern einher. Von nun an publiziert er wieder vornehmlich in Kleinverlagen, neben Prosa auch regelmäßig Gedichtbände.

Erweiterung des formalen Terrains

Man kann seine literarische Entwicklung sehr schön verfolgen in dem chronologisch geordneten, vom Dichter selbst ausgewählten Sammelband „Nun wird es hell und du gehst raus“, der in diesem Jahr zu Jürgen Theobaldys 80. Geburtstag erschienen ist. Wobei seine stilistischen Veränderungen eher als Grenzverschiebungen zu verstehen sind, eine Erweiterung seines formalen Terrains, die jederzeit eine Rückkehr auf ältere Positionen zulässt. So ist es schön zu sehen, wie etwa das entspannte, leicht melancholische Parlando-Gedicht seiner Anfänge um die Jahrtausendwende plötzlich wieder Konjunktur hat.

Leichte Kavallerie

Hinter seinem Stirnbein toben

die Schlachten, denen es entkam.

Mit einer Handvoll Gräsern

lockst du es weg vom Gras.

Legst du ihm die Hand auf

zwischen seinen Augen,

fühlst du die Schädelstätte,

auf die es blickt.

Wenn man bei Theobaldy nach einem Generalbass seines lyrischen Schaffens sucht, etwas, das sein Werk zusammenhält, dann ist es vielleicht sein Wunsch, dem profanen, ganz und gar säkularen Vorkommnis mit einfachsten Worten das Epiphanische zu entlocken. Diese Seinsversenkung, diese beinahe buddhistische Hingabe an den Augenblick fällt ihm nicht erst in den späten Poemen zu, die dann auch häufiger Reisen nach Japan und China gewidmet sind und mit fernöstlichen Kurzgedichtformen wie Haiku oder Tanka spielen.

Theobaldy sucht von Anfang an nach dem besonderen Moment, dem Kairos in der griechischen Philosophie, der günstigen Gelegenheit also, in der das Erlebnis plötzlich eine beinahe sakrale Aura bekommt. Allein durch die Form. Erst indem er diesen besonderen Augenblick sprachlich zum Leuchten bringt, verleiht er ihm Gewicht und Dauer.

„Die Kunst zu segnen ohne Weihrauchfass“, nennt er das in einem späten Poem. Und das heißt ja im Grunde wirklich nichts anderes, als das Gedicht dem Erlebnis „auf den Körper zu schreiben“, wie er es ganz am Anfang seiner Karriere in den sechziger Jahren postuliert. Wie oft ihm das gelungen ist, und wie suggestiv auch, davon zeugen Theobaldys „Ausgewählte Gedichte“ auf beeindruckende Weise.

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