konflikt um telegram
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Ohne Telegram wäre Russland aufgeschmissen

Regimefreunde und Regimekritiker gleichermaßen sind für freie Kommunikation auf die App angewiesen – und sorgen sich, wie es nach der Festnahme des Gründers weitergeht

Dieser Protest ist in Moskau erlaubt: gegen Pawel Durows Festnahme, vor der französischen Botschaft, Sonntag Foto: Alexey Maishev/imago

Aus Moskau Inna Hartwich

Selbst russische Momfluencerinnen sind plötzlich aufgeschreckt. „Durow ist im Knast! Wo können wir uns nur austauschen?“ Ähnlich Alarmistisches ist auch bei russischen Pro­pa­gan­dis­t*in­nen zu lesen. Oppositionell eingestellte Russ*innen, viele von ihnen im Exil, fordern „Freiheit für Durow!“ Und selbst das russische Außenministerium setzt sich für die Freilassung Durows ein.

Der 39-Jährige, der neben seiner russischen auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt und seit Jahren in Dubai lebt, war am Samstagabend in Paris festgenommen worden. Er soll sich geweigert haben, mit den französischen Behörden zusammenzuarbeiten, heißt es. Telegram weist jegliche Vorwürfe als „absurd“ zurück und behauptet, alle geltenden europäischen Regeln einzuhalten.

Im Jahr 2014 waren es russische Justizbehörden, die Durow mit der Festnahme gedroht hatten. Der Telegram-Gründer verließ daraufhin Russland. 2018 tat die russische Medienaufsichtsbehörde einiges, um Telegram in Russland zu sperren. Der windige Durow und sein Bruder Nikolai schafften es, die Blockierungen zu umgehen. Nicht nur in libertären Kreisen wurden sie damals dafür gefeiert.

Die große Einigkeit zwischen kremlloyalen Pro­pa­gan­dis­t*in­nen und russischen Oppositionellen mutet in diesen Tagen fast schon grotesk an. Doch sie alle hätten durch eine befürchtete Verschlechterung der Nutzung einiges zu verlieren. Die Telegram-App funktioniert eigentlich wie Whatsapp. Und doch ist sie mehr. Die Kommunikation lief von Anfang an verschlüsselt, durch seine „Kanäle“ ist Telegram zu einer Art Medium geworden. 35 Millionen Nut­ze­r*in­nen soll es allein in Russland geben, weltweit nach Angaben von Telegram 950 Millionen.

Ohne Telegram funktioniert in Russland keine Berichterstattung. Jedes unabhängige Medium bewirtschaftet seinen eigenen Informationskanal. Auf andere legale Weise ist dies durch die Zensurgesetze seit März 2022 unmöglich. Auch einzelne Jour­na­lis­t*in­nen nutzen den Dienst, um die Menschen darüber zu informieren, was im staatsnahen russischen Fernsehen nicht gezeigt wird. Videos aus Gerichtssälen, wo wieder einmal jemand wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ zu Jahren hinter Gittern verurteilt wird, finden sich hier genauso wie Aufrufe, Politgefangenen Briefe zu ­schreiben. Da russische Behörden soziale Netzwerke wie Facebook und Instagram gesperrt haben und mittlerweile auch ­Signal oder Whatsapp sowie Youtube immer wieder blockieren, em­pfinden Telegram-Nutzer die Festnahme Durows als Schlag. Sie nennen das ein „Geschenk an Putin“.

Telegram-Nutzer nennen die Festnahme Durows ein „Geschenk an Putin“

Genauso wie unabhängige Jour­na­lis­t*in­nen nutzen allerdings auch Propagandist*innen, die der Ukraine den Tod wünschen, Telegram. Sie teilen Videos von Zerstörungen, unterlegt mit menschenverachtenden und hetzerischen Aufrufen. Wie auch in Europa nutzen zudem Is­la­mis­t*in­nen die geschlossenen Chats, um Verbrechen zu planen, oder Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ke­r*in­nen, um Verschwörungstheorien zu verbreiten. Auch die russische Armee kommt kaum ohne Telegram aus: Die App ist das Kommunikationsmittel schlechthin zwischen einzelnen Einheiten.

Auch in diesem Lager ist jetzt die Sorge groß. Deshalb schreiben sie oft, dass Durow einen Fehler gemacht habe, Russland – „das freieste Land der Erde“ – einst verlassen zu haben. Oder wie es der einstige russische Präsident, Dmitri Medwedew ausdrückt – selbstredend in seinem Telegram-Kanal: „Durow wollte ein genialer Weltenbürger sein, der auch ohne sein Vaterland bestens leben kann. Er hat sich verrechnet.“