Schulstart in Berlin: Heute Glück gehabt

Wenn Berlins Schü­le­r*in­nen aus den Ferien zurückkommen, werden einige von ihnen in „Glück“ unterrichtet. Dabei geht es Persönlichkeitsentwicklung.

In anderen Städten steht Glück schon länger auf dem Lehrplan, wie hier 2018 in Fulda Foto: dpa | Jörn Perske

BERLIN taz | Ihre Lieblingsübung sei der „Jahrmarkt der schlechten Eigenschaften“, sagt Ellen Scheiter: Je­de*r schreibt eine Eigenschaft, die er*­sie an sich nicht mag, auf einen Zettel und legt ihn in einen Korb. Dann wird ein Zettel gezogen, und die Aufgabe ist es, die Eigenschaft meistbietend zu versteigern. Die anderen Schü­le­r*in­nen ringen darum, die Eigenschaft zu bekommen. Was den Kindern vermittelt werden soll: „Jede ungemochte Eigenschaft hat eine gute Seite“, erklärt Scheiter.

Scheiter leitet die Bildungsorganisation Sethasa, die in Kooperation mit dem Heidelberger Fritz-Schubert Institut für Persönlichkeitsentwicklung seit 2013 bundesweit das Pilotprojekt „Schulfach Glück“ durchführt, seit 2017 auch in Berlin. Kri­ti­ke­r*in­nen sehen darin die endgültige Verweichlichung der jüngeren Generationen. Doch es geht nicht um Yoga und Blümchenpflücken. „Es geht um Glück im Sinne von psychologischem Wohlbefinden“, sagt Scheiter. Die Bezeichnung des Fachs als „Glück“ gefällt ihr nicht besonders. In Bayern laufe der Unterricht unter „Persönliche Entwicklung“.

Ziel des Fachs ist es, die Persönlichkeit zu stärken. „Kinder und Jugendliche lernen, Gefühle zu artikulieren, Glaubenssätzen auf den Grund zu gehen, sich mit ihren Stärken und Schwächen auseinanderzusetzen“, erklärt Scheiter. Der vom Systemtherapeuten Ernst Fritz-Schubert konzipierte Unterricht basiert auf erlebnis-, sport- und theaterpädagogischen Übungen inklusive „Coaching-Anteilen“. „Im Anschluss an die Übungen wird gemeinsam reflektiert, was die Schü­le­r*in­nen gespürt haben, und ihre Erfahrungen werden in einen inhaltlichen Kontext verortet.“

Sind es diese Fähigkeiten, die angesichts der bislang schlechtesten Ergebnisse der Pisa-Studie Ende 2023 – vor allem in Mathe und Lesen – gestärkt werden müssen? Ja, glaubt Scheiter, denn sie wirkten unterstützend für andere Fächer. Immer mehr Schü­le­r*in­nen seien „komplett durch den Wind“, hätten psychische Probleme und seien in einem Zustand, in dem man ihnen inhaltlich nichts mehr vermitteln könne. „Den Kindern fehlt Halt“, sagt Scheiter. Es brauche Persönlichkeitsentwicklung, um mit ihnen in Beziehung treten zu können.

Inhalt durch Beziehung

Das auf ein Schuljahr ausgelegte Glücksfach unterstützt sie dabei. Das ergab eine Auswertung durch das Fritz-Schubert-Institut und die Uni Osnabrück: Nach einem Jahr schätzten die Schü­le­r*in­nen die Schulgemeinschaft wertvoller ein und sahen häufiger einen Lebenssinn. Sie konnten ihre Ziele besser formulieren und gingen mit einer gesteigerten Lernmotivation und Zielorientierung aus dem Unterricht hervor.

Inzwischen gibt es das Fach bundesweit an über 500 Schulen. Anbieter sind verschiedene Bildungsträger, darunter Sethasa, das den Glücksunterricht in Berlin an 27 Schulen anbietet. Das Fach ist jedoch kein Bestandteil des Kanons der Kultusministerien. „Daher läuft es oft im Rahmen der Fächer Ethik, praktische Philosophie oder Lebenskunde“, sagt Scheiter. In manchen Schulen wird es als Wahlpflichtfach oder AG angeboten und daher auch nicht benotet. Im Rahmen anderer Fächer jedoch schon. Scheiter gefällt das nicht: „Was will man bewerten, wenn man sich mit Persönlichkeit beschäftigt?“

Sethasa bildet auch Leh­re­r*in­nen aus. „Viele kommen zu uns, weil sie mit dem bisherigen Handwerk, das sie als Lehrkräfte erworben haben, nicht weiterkommen“, so Scheiter. Sie lernen unter anderem, wie man eine Beziehung zu den Schü­le­r*in­nen aufbaut. Das sei essenziell, glaubt Scheiter, denn „durch Beziehungen werden Inhalte vermittelt“. Die Ausbildung ist für die Lehrkräfte der Partnerschulen kostenlos, die 3.200 Euro, die der Glücksunterricht pro Klasse jährlich kostet, werden von den Schulen übernommen. Finanziert wird es aus Ländertöpfen.

Von Zehlendorf über Neukölln bis Pankow bietet Sethasa das Fach in Grundschulen, integrierten Sekundarschulen, Berufsausbildungszentren und Gemeinschaftsschulen an – jedoch nur an einem Gymnasium. „Unter den Projektschulen sind viele mit einem hohen Anteil an sozial benachteiligten Schüler*innen“, sagt Scheiter. Denn hier seien die Herausforderungen und damit auch der Bedarf am größten.

Glück auf dem Vormarsch

Um für mehr Chancengerechtigkeit an Schulen zu sorgen, gibt es seit dem 1. August das „Startchancen-Programm“. Von den insgesamt 20 Milliarden Euro, die für die nächsten zehn Jahre bereitstehen, sollen bundesweit 4.000 Schulen profitieren. Auf Berlin entfallen 460 Millionen Euro. Das Programm soll in diesem Schuljahr zunächst an 59 Schulen starten und anschließend auf rund 150 bis 160 Schulen ausgeweitet werden, darunter fast 100 Grundschulen. Auch hier steht die Persönlichkeitsentwicklung im Zentrum. Neben der Stärkung der Kernkompetenzen Mathe und Deutsch sowie der Ausstattung von Schulen ist sie eine von drei Säulen, die für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen soll.

Doch es gibt auch Kritik an dem Unterricht zur Persönlichkeitsentwicklung: „In Deutschland ist es gängig, dass Fächer wissenschaftlich rückgebunden und einer Fachdisziplin zugeordnet sind“, sagt Bildungsforscherin Simone Hiller der taz. „Obwohl es wissenschaftlich fundiert ist, ist das beim Glücksfach nicht gegeben.“ Zudem seien die Lehrkräfte nicht ausgebildet für die psychischen Herausforderungen der Kinder, mit denen sie konfrontiert würden – wie Essstörungen, Gewalt- oder Diskriminierungserfahrungen. „Man muss als Lehrperson auch auf Fachpersonen verweisen, die das behandeln können.“

Das Schulfach Glück sei zu individualistisch gedacht, findet Hiller. „Natürlich brauchen wir Persönlichkeitsentwicklung in der Schule, aber die haben wir bereits.“ Ein Schulfach, das sich nur um Persönlichkeit kümmert, impliziere, dass andere Fächer nicht persönlichkeitsstärkend seien. „Das ist ein Misstrauensvotum gegen alle Lehrpersonen und Fächer.“

Beim Fritz-Schubert-Institut sieht man das anders: Wenn bei Schü­le­r*in­nen­be­fra­gun­gen die „Schule schlimmer als der Gang zum Zahnarzt“ empfunden wird, sei es höchste Zeit, den Status quo des Schulalltags zu hinterfragen.

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