Diskussion über Gewalt an Schulen: Lehrer sind frustriert und ratlos

Niedersächsische Lehrervertreter beklagen die wachsende Verrohung an ihren Schulen. Doch die Debatte um Ursachen und Maßnahmen kommt nicht weit.

Gewalt an Schulen ist ein drängendes Thema – nicht nur bei Amokandrohungen wie in diesem Bild Foto: Sascha Thelen/dpa

HANNOVER taz | Polizeieinsätze auf dem Schulhof, erboste Eltern, die das Sekretariat stürmen, Schlägereien, Bedrohungen, Beleidigungen, Cybermobbing – glaubt man mancher Schlagzeile, befinden sich deutsche Schulen quasi im Ausnahmezustand.

Gleich zwei Veranstaltungen haben sich in der vergangenen Woche in Hannover mit dem Thema „Gewalt gegen Lehrkräfte“ beschäftigt. Am Donnerstag hatte die CDU-Landtagsfraktion zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, am Freitag stellte der niedersächsische Philologenverband die Ergebnisse einer Umfrage unter seinen Mitgliedern vor.

Kurz zuvor hatte schon das Landeskriminalamt seinen jährlichen Bericht „Junge Menschen – Delinquenz, Gefährdung, Prävention“ öffentlich gemacht. Außerdem hatte es im vergangenen Schuljahr eine Reihe von Schulen in Hannover gegeben, die öffentliche Brandbriefe – ähnlich dem der Rütli-Schule in Berlin 2006– verfasst hatten. Genug Stoff für Debatten also, aber auch sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Thema.

Dabei gehört der Befund des LKA – auf dem CDU-Podium vertreten durch Heike Willems – zu denen, der am ehesten ein differenziertes Bild bietet. 5.053 Fälle hat das LKA im Schulkontext erfasst, das ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Vorjahr mit 4.853 Fällen.

LKA registriert Verschiebung hin zu Rohheitsdelikten

Hier setzt sich der schon 2022 regis­trierte Anstieg fort, den die meisten Kriminologen für einen Nachholeffekt der Coronajahre halten, allerdings nicht mehr ganz so stark wie zuvor. Das Niveau liegt insgesamt immer noch unter dem von vor Corona.

Zu berücksichtigen sei dabei auch, mahnt Willems, dass es sich hier um sogenannte Hellfeld-Zahlen handelt: Erfasst werden nur die Taten, die tatsächlich angezeigt werden, was zu Verzerrungen führen kann, wenn sich das Anzeigeverhalten, die Kontrolldichte oder die Rechtslage ändern.

Sie macht das deutlich an dem Deliktfeld Verbreitung jugendpornografischer Schriften: Hier sind die Zahlen in den letzten Jahren dramatisch angestiegen. Das liegt aber nicht daran, dass mehr Kinder und Jugendliche pädokriminell sind, sondern daran, dass auch das Teilen pornografischer Bilder im Klassenchat neuerdings geahndet wird.

Gleichwohl, erklärt die Landesbeauftragte für Jugendsachen beim LKA, zeigt sich auch hier eine bemerkenswerte Verschiebung: Die Anzahl der Rohheitsdelikte steigt deutlich, während die Zahl der Diebstähle, Sachbeschädigungen und Drogendelikte rückläufig ist.

Philologenverband zeichnet noch dramatischeres Bild

Opfer sind dabei vor allem Kinder und Jugendliche: 3.003 zählt die LKA-Statistik hier, das sind 24,24 Prozent mehr als im Vorjahr. Aber auch Lehrkräfte sind häufiger betroffen: 149 Opfer erfasst das LKA in 2023, das sind 16,41 Prozent mehr als im Vorjahr, darunter sind 87 Körperverletzungen und 56 Fälle von Bedrohungen.

Ein noch sehr viel dramatischeres Bild zeichnet die Umfrage, die der niedersächsische Philologenverband unter 950 Mitgliedern im aktiven Schuldienst durchgeführt hat.

Das Thema, erklärt der Vorsitzende Christoph Rabbow, sei auf dem letzten Verbandstag von Mitgliedern an den Vorstand herangetragen worden. „Wir haben das Problem bisher wohl unterschätzt.“ Was vermutlich auch etwas damit zu tun hat, dass der Verband in erster Linie Lehrer an Gymnasien vertritt, wo das Problem später virulent wurde als an anderen Schulformen.

Der Befund des Verbandes: 70 Prozent der befragten Lehrkräfte geben an, schon einmal verbale Gewalt erfahren zu haben, jede fünfte Lehrkraft sogar physische. 71 Prozent der Lehrkräfte geben an, sich schutzlos zu fühlen, 87 Prozent sehen keine ausreichende Reaktion aus dem Kultusministerium, ein Drittel sagt, sie würden den Beruf nicht noch einmal ergreifen.

Der hier zu Grunde gelegte Gewaltbegriff bleibt allerdings etwas vage: Ob sich hinter der Aussage „ich habe an meiner Schule schon einmal Erfahrung mit verbaler Gewalt gemacht“ eine einmalige grobe Beleidigung oder minutenlanges Niederbrüllen verbirgt, weiß nur derjenige, der hier sein Kreuzchen gemacht hat.

Lehrer möchten nicht schon wieder Konzepte schreiben

Diese Unschärfen kennzeichnen dann auch die Debatte über Ursachen und Maßnahmen. Der Philologenverband sieht vor allem das Kultusministerium in der Pflicht sieht und fordert energisch eine Überarbeitung des entsprechenden Erlasses ein: klarere Verhaltensrichtlinien und einheitliche Konsequenzen. Das sei nötig, damit das Thema nicht länger kleingeredet oder unter den Tisch gekehrt werden könne, meint Rabbow.

Bei der Podiumsdiskussion, die von der CDU-Landtagsfraktion organisiert wurde, steht das nicht so weit oben auf der Forderungsliste. Neben dem LKA hatte die CDU Vertreter verschiedenen Lehrerverbände, den Vorsitzenden des Landesschülerrates und eine Vertreterin des Landespräventionsrates eingeladen.

Da zeigte sich schnell, wie unterschiedlich die Perspektiven auf das Thema sind. Viele Lehrervertreter äußerten vor allem ihren Frust, weil sie sich mit dem Problem – das sie als gesellschaftliches betrachten – alleingelassen fühlen.

Sie leiden vor allem daran, dass es am Ende immer nur darauf hinauslaufe, noch ein weiteres Konzept schreiben zu müssen oder punktuell kurzfristige Präventionsprojekte organisieren zu dürfen. „Die nutzen dann drei Tage lang etwas und das war es“, sagt einer.

Uneinigkeit bei Analyse und Maßnahmen

Ansonsten mäandert die Debatte ziemlich: Während die Vertreterin des Landespräventionsrates Tanja Rusack betont, man müsse frühzeitig ansetzen, vor allem bei der Demokratieerziehung in Kita und Grundschule – weil Kinder, die wüssten, wo sie gehört werden, es nicht nötig haben zu schlagen, meint kurze Zeit später jemand aus dem Publikum, man müsse auch einmal aufhören, immer nur über Rechte zu reden, es gäbe ja auch Pflichten.

Während der Vertreter der Schülerschaft, Matteo Feind, vor allem die digitale Gewalt im Auge hat und mehr Medienkompetenz für Schüler und Lehrer fordert, sind andere schnell beim allgemeinen Werteverfall und dem, was Gesellschaft und Elternhäuser eigentlich tun müssten. Das reicht dann vom Käppi absetzen im Klassenzimmer bis zum Schulverweis für Gewalttäter.

So sehr sich der bildungspolitische Sprecher Christian Fühner und der innenpolitische Sprecher André Bock auch bemühen: Es will einfach kein Forderungskatalog daraus erwachsen, den man mal eben in einen Antrag oder Gesetzesentwurf gießen könnte.

Am Ende muss es wohl bei dem Fazit bleiben, das die LKA-Vertreterin Heike Willems zieht: „Das Gute an dieser Debatte ist, dass wir sie führen.“ Mit anderen Worten: Schön, dass wir mal darüber geredet haben.

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