Kriegsveteranen bei den Paralympics: Von der Front auf das Spielfeld
Die Paralympics sind eng mit Krieg verbunden. Die Konfliktgeschichte vieler Länder lässt sich in paralympischen Disziplinen ablesen. Auch in Paris.
Dmytro Melnyk, 44, hat seine Behinderung seit seinem 18. Lebensjahr. Er war von einem Balkon gestürzt, brach sich Becken und Hüfte, sein linkes Bein ist zehn Zentimeter kürzer als sein rechtes. Nach der langen Rehabilitation begann Melnyk mit Sitzvolleyball. Er nahm mit der Ukraine 2016 an den Paralympics in Rio teil. Der Sport war sein Lebensmittelpunkt. Bis zum Kriegsbeginn 2022.
Seither wollte sich Dmytro Melnyk mehrfach der ukrainischen Armee anschließen, aber wegen seiner Behinderung wurde er immer wieder abgelehnt. Er ließ sich auf eigene Kosten zum zivilen Drohnenführer ausbilden und wurde im März 2023 schließlich doch angenommen. Zuletzt an der Front trainierte er Aufschläge und Schmetterbälle an der Ziegelwand eines alten Bauernhauses.
Es sind rund 4.400 Sportlerinnen und Sportler aus 167 Ländern, die seit Mittwoch an den 17. Sommer-Paralympics teilnehmen. Viele von ihnen leben seit der Geburt mit einer Behinderung. Andere erkrankten im Laufe ihres Lebens oder mussten sich nach Unfällen amputieren lassen. In etliche Biografien haben sich auch Konflikte eingeschrieben: Zahlreiche Athleten wurden einst als Soldaten verwundet, andere betrachten ihren Sport noch immer als patriotische Pflicht. Die Weltspiele des Behindertensports sind so sehr mit Krieg verbunden wie kaum eine andere Sportbewegung.
Neutrale Athleten aus Russland vermutlich nicht so neutral
Besonders sichtbar ist das in der Ukraine. Laut Valeriy Sushkevych, dem Präsidenten des Nationalen Paralympischen Komitees, sollen die Wohnungen und Häuser von 100 ukrainischen Paralympiern zerstört worden sein. Ihr Hauptquartier und ihr Trainingszentrum auf der Krim werden seit der Besatzung auch von russischen Soldaten für Sport genutzt. Für Sushkevych ist es unerträglich, dass in Paris 98 „neutrale Athleten“ aus Russland und Belarus teilnehmen. Offiziell haben diese keine Verbindung zu Putins Sicherheitsapparat.
Doch die ukrainischen Paralympier recherchieren seit mehr als zwei Jahren, um das Gegenteil zu beweisen. Laut Sushkevych ist der Behindertensport in Russland eine wichtige Säule in der Rehabilitation verwundeter Soldaten. Dafür wurde in der besetzten Region Donezk offenbar eine neue Sportorganisation gegründet. In Belarus soll ein paralympischer Schwimmer sogar an der Entführung ukrainischer Kinder beteiligt gewesen sein.
Die Konfliktgeschichten einiger Länder lassen sich in paralympischen Disziplinen ablesen. In Ruanda müssen nach dem Genozid 1994 viele verletzte Tutsi mit Amputationen leben. Einige von ihnen begründeten eine Tradition im Sitzvolleyball. Das ruandische Frauenteam hat sich nun für Paris qualifiziert. Bei den Männern ist Bosnien und Herzegowina vertreten. Nach dem Krieg in den Neunzigern wurde Sitzvolleyball auch dort zu einer geachteten Sportart.
Doch niemand fördert seine Kriegsverletzten so sehr wie die USA. Soldaten, die im Irak oder in Afghanistan verwundet wurden, sind oft gegenüber denjenigen im Vorteil, die nach einem Unfall oder einer Erkrankung auf das reformbedürftige Gesundheitssystem angewiesen sind. Das Verteidigungs- und das Kriegsveteranenministerium und Dutzende private Organisationen stellen Förderungen in Millionenhöhe bereit. An diesem System orientieren sich Athleten in Großbritannien und Kanada. Regelmäßig messen sie sich bei eigenen Wettbewerben wie den „Warrior Games“ und den „Invictus Games“.
Das Fundament der Paralympics
Damit kehren die Paralympics zu ihren Wurzeln zurück. Es war der Neurologe Ludwig Guttmann, der während des Zweiten Weltkrieges in der englischen Kleinstadt Aylesbury die Behandlung von Querschnittsgelähmten revolutionierte. Er animierte sie zu mehr Bewegung und organisierte im Juli 1948, am Eröffnungstag der Olympischen Spiele von London, im Park seines Krankenhauses einen Wettbewerb im Bogenschießen für 16 Kriegsversehrte. Es war das Fundament der Paralympics, die seit 1960 alle vier Jahre stattfinden.
An das Vermächtnis des jüdischen Mediziners Guttmann, der vor den Nazis geflohen war, wird in diesen Tagen vor allem in Israel erinnert. Im historischen Medaillenspiegel der Sommer-Paralympics belegt das kleine Land Rang 15. Die beste Platzierung gelang 1976 in Toronto: Rang drei mit 69 Medaillen. Damals nahmen für Israel etliche Sportler teil, die als Soldaten im Sechstagekrieg und im Jom-Kippur-Krieg verwundet worden waren. Unter ihnen Moshe Matalon, der heute dem Nationalen Paralympischen Komitee Israels vorsteht.
Er möchte, dass die etwa 10.000 Soldaten, die seit dem 7. Oktober medizinisch behandelt werden, durch Sport wieder in den Alltag zurückfinden. Und vielleicht nehmen sie dann an den Paralympics 2028 teil. Der inoffizielle Titel seines Projekts: „Von Gaza nach Los Angeles“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“