Selfie-Wahn weltweit: Der Tod als Pose

Influencer tummeln sich zu Hunderten an Schauplätzen, schubsen sich beiseite, um den besten Hintergrund für ihre exklusive Einsamkeit zu erlangen.

Frau vor Kirschblüten: Viele jagen blindlings jeder formschönen Attraktion für das makellose Selfie hinterher Foto: Danny Lawson/dpa

Das Internet ist eine frühtödliche Stolperfalle“, sagt die Freundin und legt ihr Telefon auf den Bistrotisch.

„Nur wenn man blindlings jeder formschönen Attraktion für das makellose Selfie hinterherjagt“, sagt die andere und faltet in Nullkommanix einen Schwan aus ihrer Serviette.

„Sie tummeln sich zu Hunderten weltweit an Schauplätzen, schubsen sich grob beiseite, um den besten Hintergrund für ihre exklusive Einsamkeit zu erlangen.“

„Bis sie schwindelig von all der glatten Schönheit abrutschen und in die Tiefe plumpsen.“

„Was für ein sinnloser Tod.“

„Welcher Tod hat denn Sinn?“

„Und welches Leben?“

„Was ist überhaupt Sinn?“

Wenn das Leben ein Recyclinghof ist

„Mehrwert?“

„Das Leben, ein Recyclinghof.“

„Und wenn der gesteigerte Mehrwert für einige das soundsovielte perfekte Foto für Dopamin ist, na und?“

„Ist doch schnurz, wer wie sein Leben verramscht.“

„Aber warum genau hat die tote Influencerin überhaupt kommunikative Relevanz?“

„Quantitativ? Bereits viele Hunderte starben beim Versuch, ein Selfie zu machen.“

„Na und?“

„Wer es ständig auf den Gipfel treibt, sollte rechtzeitig wieder runterkommen.“

„Aber warum müssen wir darüber reden?“

„Es ist Teil der Entwicklung unserer akuten Gesellschaft.“

„Ich kenne niemanden, der das macht.“

Für Geld absurde Dinge machen

„Aber wir machen doch alle absurde Dinge für Geld.“

„Mit Kollegen auskommen.“

„Glaub’, die Bestätigung treibt die Fotofreaks noch mehr an als das Geld.“

„Alles wegen der Feelings.“

„Adrenalin ist the Answer.“

„Hier steht, einer Studie zufolge waren es in einem Jahr 379 Selfie-bedingte Todesfälle. Alles dabei: Hochhaus, Berg, Balkon, Schlucht, Pool, Wasserfall.“

„Das Selbst inszeniert seinen eigenen Tod in Vollendung.“

„Also ist es Kunst?“

„Das ästhetische Nirwana!“

„Aber was kommt danach?“

„Na, eben nur noch der Himmel.“

„Nun ergibt alles einen Sinn.“

„Als finaler Schritt der Klimax bleibt ja nur noch die Wolke.“

„Der überehrgeizige Sprung direkt ins Wolkenkuckucksheim.“

„Ach, so ein Tod an einem imposanten Ort hat auch was.“

„So vom Ding her schon.“

„Aber wie sollen die Follower denn dann noch folgen?“

Im Jenseits kein Internet

„Im Jenseits gibt’s kein WLAN.“

„Die Follower folgen einfach ihrem niedersten Impuls und posten eine tränenreiche Story.“

„Und die Tränen bringen den Followern Follower.“

„Für die sie bald schon super-duper-happy vor einem gigantischen Wasserfall tanzen.“

„Das ist die ganze Angelegenheit in chronischer Rotation.“

„Ruchlos, turbulent und öde zugleich.“

„Und führt bei zu großer Hartnäckigkeit zum verfrühten Tod.“

„Das Leben führt doch so oder so zum Tod.“

„Aber muss es ein alberner sein?“

„Über den dann nicht mal jemand lacht.“

„Risiko ist nicht lustig.“

„Schönheit auch nicht.“

„Aber alles in allem aber unterhaltsam.“

„Ist der Sinn des Lebens vielleicht: gute Unterhaltung, egal was.“

„Wie früher im Zirkus die Messerwerfer!“

„Warum will man womöglich von Messern getroffen werden oder dabei zusehen, wie jemand getroffen wird?“

„Um was zu spüren?“

„Das man da ist.“

„Bis man weg ist.“

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Jasmin Ramadan ist Schriftstellerin in Hamburg. Ihr neuer Roman Roman „Auf Wiedersehen“ ist im April 2023 im Weissbooks Verlag erschienen. 2020 war sie für den Bachmann-Preis nominiert. In der taz verdichtet sie im Zwei-Wochen-Takt tatsächlich Erlebtes literarisch.

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