: Prima lesen und schreiben
Jeder vierte Grundschüler in Deutschland hat Schwierigkeiten beim Lesen und Verstehen von Texten. Die Forschung weiß eigentlich, wie das Problem zu lösen wäre – doch an der Umsetzung hapert es noch
Von Birk Grüling
Helen Herrmannsdörfer hat eine Mission: Die Grundschullehrerin aus dem bayerischen Landkreis Landsberg will Begeisterung für das Lesen wecken. Nicht nur in ihrer Klasse oder an ihrer Schule, sondern am liebsten in ganz Bayern, vielleicht sogar über die Landesgrenzen hinaus. Dafür investiert sie viel Arbeit und noch mehr Freizeit. Sie entwickelt Lesematerialien für das Kollegium, baut die Schulbücherei auf, organisiert Lesetage mit Kinderbuchautor:innen, kümmert sich um Leseförderung in der Gemeinde, besucht Fachtage und hat einen Bücherblog namens „Das Kunterbunte Sofa“.
Gerade hat sie Lehrerfortbildungen zur Leseförderung entwickelt, gefördert von den örtlichen Schulämtern. „Nebenbei“ steht sie noch im Klassenzimmer. Ausgleichsstunden für ihr Engagement bekommt sie bisher nicht. In Zeiten des Lehrermangels ist jede Stunde wertvoll. „Das geht nicht ewig so weiter, sagt mein Mann immer. Aber ich kann nicht einfach aufhören. Leseförderung ist so wichtig für die Zukunft der Kinder“, sagt die Pädagogin am Telefon. Wer nicht richtig lesen könne, habe weniger Chancen, an der Gesellschaft teilzuhaben – beim Einkaufen, beim Wählen oder im Beruf. Lesen lernen gehöre deshalb ganz oben auf die bildungspolitische Agenda, findet sie.
Wie zutreffend diese Einschätzung ist, zeigen unter anderem die Ergebnisse der jüngsten IGLU-Studie. Am Ende der Grundschulzeit sollten Kinder in der Lage sein, mindestens 100 Wörter pro Minute zu lesen und das Gelesene zu verstehen und wiederzugeben. Jeder vierte Viertklässler in Deutschland schafft das nicht und hat damit große Nachteile in seiner weiteren Schullaufbahn. „Ich glaube schon, dass die Politik das Problem grundsätzlich erkannt hat. Es fehlt aber noch an der nötigen Konsequenz bei der Bekämpfung“, sagt Herrmannsdörfer.
In Bayern gibt es seit dem Schuljahr 2023/24 ein landesweites Leseförderprogramm namens FiLBY. Es umfasst ein Screening der Lesekompetenz, Lesen in Tandems aus schwachen und starken Schülern sowie das Erlernen von speziellen Lesemethoden zu einem besseren Textverständnis. Außerdem gibt es Fortbildungen für alle Lehrkräfte. Das Urteil der Praktikerin: gut gedacht, aber doch sehr kopflastig und wenig praxisnah. Gerade leseschwache Schüler:innen würden mit den Materialien kaum erreicht. Deshalb hat sie das Programm mit vielen eigenen Ideen, abgestimmt auf die Heterogenität der Schülerschaft, ergänzt – von Lernspielen im gemeinsamen (Vor-)Lesen über vereinfachte Texte bis hin zu Lesetipps für die Eltern und Kinder.
Ganz neu sind die mäßigen Leseleistungen nicht. „Schon 2001 lag die Zahl der Viertklässler, die nicht ausreichend gut lesen konnten, bei knapp 20 Prozent“, sagt Steffen Gailberger, Leseforscher an der Universität Kiel. Der Anstieg um 5 Prozent sei für die Lesedidaktik nicht überraschend. Schließlich sind die Gründe gut erforscht. Die schulische Nettolesezeit ist im internationalen Vergleich eher gering – auch nach der Stärkung des Faches Deutsch an Grundschulen, auf die sich die Kultusministerkonferenz (KMK) im März geeinigt hat.
Dazu kommt, dass die Schülerschaft in den Grundschulen durch Flucht und Kriege noch heterogener geworden ist. Auch digitale Medien dürften eine Rolle spielen. Sie sind auf Schnelligkeit und kurze Inhalte ausgelegt und führen zu einer veränderten Aufmerksamkeitsspanne. Nicht zuletzt sind die Folgen der Pandemie spürbar. Vor allem die Lesekompetenz von Kindern aus sozial benachteiligten Familien hat sich durch Abschottung und Fernunterricht verschlechtert.
Ausschlaggebend für die anhaltenden Probleme beim Lesen sind aus Sicht von Gailberger aber vor allem didaktische Defizite: „Wir haben uns zu lange auf die Lesemotivation verlassen.“ Der „Irrglaube“: Wenn man die Kinder nur oft genug mit Büchern in Kontakt bringe, komme das flüssige Lesen von allein. Bücherkisten wurden in die Schulen geschickt, Buchgeschenke verteilt und Förderprogramme für Schullesungen von Kinderbuchautor:innen geschaffen. All diese Maßnahmen seien sinnvoll und ein Gewinn für die Kinder, so Gailberger. Aber sie könnten erst der zweite Schritt sein. „Davor müssen wir die Leseflüssigkeit stärken.“ Nur wer gut lesen könne, greife auch zum Buch.
Mit anderen Worten: Wer nicht gut lesen kann und die Texte nicht versteht, kann auch nicht in die Fantasiewelten zwischen zwei Buchdeckeln eintauchen. Deshalb hat sich der didaktische Ansatz geändert. Wie eine Sportart oder ein Musikinstrument soll nun auch das Lesen trainiert werden – und zwar nicht (nur) durch die Eltern oder ehrenamtliche Lesepaten, sondern konsequent an jedem Schultag, in jedem Fach. Gailberger und seine Kolleg:innen haben ein in der Fachwelt viel gelobtes Modell namens Leseband entwickelt.
Eingeführt ist es bereits in Hamburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Weitere Bundesländer wie Berlin oder Hessen beratschlagen über eine Einführung. Das Konzept des Lesebandes ist einfach: An jedem Schultag wird 20 Minuten lang gelesen – nicht nur im Deutschunterricht, sondern als zusätzliches Lesetraining in allen Fächern. Dabei werden bewährte Methoden wie Lesetandems aus schwächeren und stärkeren Lesern oder das gemeinsame Vorlesen von Texten kombiniert.
Neben der Leseflüssigkeit ist auch die Förderung der Lesemotivation wichtig. Die Herausforderung in der Grundschule ist dabei besonders hoch: Die Texte und Geschichten sollen einerseits spannend oder lustig, andererseits für die Leseanfänger:innen leicht verständlich sein. Dass sich Kinderbuchverlage Mühe geben, die hohen Ansprüche und heterogene Lesekompetenzen unter einen Hut zu bringen, sieht man bei den Erstlesebüchern: Es gibt ein größeres Themenspektrum von Pferden bis zu großen magischen Welten. Auch Ableger bekannter Reihen wie den „Drei ???“, „TKKG“ oder „Schule der Magischen Tiere“ gibt es schon für Leseanfänger:innen. Zunehmend kommen auch Comics beim Lesenlernen zum Einsatz. Eine weitere Veränderung: Es gibt mehr Angebote, die sich an „schwächere“ Leser:innen wenden. Ein gelungenes Beispiel dafür ist die Reihe „Super Lesbar“. Diese Bücher aus dem Beltz Verlag unterscheiden zwischen Alter und Lesekompetenz. Die Themen richten sich an ältere Kinder, aber das Leseniveau ist leichter. (taz)
Der Leistungsstand der Kinder wird durch eine begleitende Leistungsdiagnostik überprüft. Dazu erhalten alle Lehrkräfte entsprechende Fortbildungen. Erste Ergebnisse aus der Evaluationsforschung sind vielversprechend: Im Laufe der Grundschulzeit verbesserten sich die Leistungen der Kinder nicht nur im Lesen, sondern ebenso auch in Mathematik oder Rechtschreibung statistisch signifikant. Besonders groß war der Effekt bei Kindern mit einer anderen Familiensprache.
Einziger Wermutstropfen: Selbst bei konsequenter Umsetzung von Konzepten wie dem Leseband wird es wohl 10 bis 15 Jahre dauern, bis positive Effekte auch in größeren Bildungsstudien sichtbar werden. Der Grund dafür ist, dass der Aufwand und die Kosten für eine strukturierte und flächendeckende Leseförderung immens sind. In Bayern hat das Kultusministerium gerade eine Überarbeitung von FiLBY angekündigt, neue Materialien wurden entwickelt, weitere Fortbildungen sollen angeboten werden.
Doch der bildungspolitische Wille ist nur der erste Schritt. Umgesetzt werden muss die Leseförderung an den Schulen selbst, und auch das ist viel Arbeit. „Wir müssen bei den Kolleg:innen Überzeugungsarbeit leisten, brauchen Fortbildungen und gute, praktische Materialien. Das geht nicht mal so nebenbei“, sagt Lehrerin Herrmannsdörfer. Für das Leseband zum Beispiel werden 100 Minuten pro Woche vom Fachunterricht abgezogen, um das Lesen zu fördern. Die Projektverantwortlichen müssen genau erklären, warum Unterrichtszeit für die kontinuierliche und systematische Leseförderung geopfert wird und natürlich auch, welche Aufgabe die Kolleg:innen dabei übernehmen.
Steffen Gailberger, Leseforscher an der Universität Kiel
Auch bei der Auswahl geeigneter Lesematerialien brauchen die Lehrer:innen Unterstützung. „Niemand kann von ihnen erwarten, dass sie in ihrer Freizeit den Kinderbuchmarkt im Auge behalten. Umso wichtiger wäre es, auch dafür Verantwortliche in der Schule zu benennen und sie entsprechend mit Stunden zu entlasten“, fordert Herrmannsdörfer. Auch die genaue Lesediagnose der eigenen Schülerschaft ist eine große Aufgabe. An manchen Schulen sind mehr Viellesezeiten zum besseren Leseverstehen, an anderen mehr Lautlesezeiten zur Steigerung der Leseflüssigkeit sinnvoll.
Die Konzepte müssen also genügend Spielraum für individuelle Anpassungen lassen. Für das Leseband planen Gailberger und sein Team deshalb vierjährige Erprobungsphasen an einzelnen Schulen. Erst nach und nach sollen weitere Schulen einbezogen werden. In der Zwischenzeit bleiben die Leselücken bei Kindern und Jugendlichen unverändert groß – mit den bekannten Folgen wie schlechteren Bildungschancen und erschwerter Teilhabe in der Gesellschaft.
In der Zwischenzeit muss sich die Bildungspolitik weiterhin darauf verlassen, dass engagierte Grundschullehrkräfte alles versuchen, um wenigstens noch ein paar Kinder und Jugendliche zum Lesen zu bringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen