: Die Katastrophe wegschwindeln
Alex Jones hetzt auf seiner Plattform Infowars gegen die Überlebenden und Angehörigen des Amoklaufs an der Sandy-Hook-Schule 2012. Eine neue Doku zeigt seinen Einfluss auf amerikanische Verschwörungsmythen
Von Chris Schinke
Fast jeder vierte Amerikaner glaubt, dass der Amoklauf in der Sandy-Hook-Grundschule in Newton in Conneticut 2012 definitiv oder möglicherweise gestellt war. Dieser erschreckend hohe Anteil dürfte größtenteils Alex Jones und seinem Onlineportal Infowars zu verdanken sein. Welchen großen Einfluss Jones’Medienunternehmen auf die US-amerikanische Öffentlichkeit hat, wird von vielen in Europa unterschätzt.
Zitiert wird diese Zahl in Dan Reeds neuer Doku „The Truth vs. Alex Jones“ vom Anwalt einer Opferfamilie des Massakers, die mit anderen Angehörigen Jones vor Gericht zogen. Bereits zwei Stunden nachdem der Täter in die Grundschule eingedrungen war und im Laufe seines Amoklaufs 26 Personen getötet hatte, 20 davon zwischen sechs und sieben Jahren alt, insinuierte Jones vor laufender Kamera, dass es sich bei dem Angriff um eine „False-Flag-Aktion“ handeln müsse – inszeniert von der US-Regierung, um aufrechten Bürgern ihre Schusswaffen abzunehmen.
Was im Dezember 2012 kurz nach dem Attentat noch wie das skurrile Hirngespinst eines wenig ernst zu nehmenden politischen Wirrkopfes klang, sollte sich aber zu einem bedrohlichen Massenphänomen entwickeln, das die Züge einer paranoiden Massenpsychose trug.
Der Talkmaster Jones begann seine Karriere beim nichtkommerziellen Public-Access-Fernsehen und einem lokalen Radiosender in Austin, Texas, bevor er sich kurz nach 9/11 zum „Truther“ entwickelte – eine verschwörungsideologische Bewegung, die hinter dem Anschlag auf das World Trade Center einen „Inside Job“ wittert, das der Anschlag also ein verdeckter Plan der Regierung gewesen sei.
Und mit dem Internet fand Jones ein Publikum für Verschwörungsmythen – und entwickelte eine erfolgsträchtige rechtsradikale Medienstrategie: vier Stunden Monolog pro Tag, sechs Tage die Woche. Je gewaltiger die Lüge, desto erfolgreicher sein Geschäftsmodell. Zum Beispiel die inzwischen berühmte Behauptung, dass die Regierung mit Chemikalien im Grundwasser die „verdammten Frösche schwul machen“ würde.
Das mediale Aufsehen um den Amoklauf an der Sandy-Hook-Schule, katapultierte Jones’Portal ins Zentrum gesellschaftlicher Aufmerksamkeit. Tageszeitungen und Fernsehsender landauf, landab setzten sich in ihrer Berichterstattung mit Jones’irren Thesen auseinander.
Die Doku „The Truth vs. Alex Jones“ erschien zunächst im März beim US-amerikanischen Sender HBO, seit dem 4. August kann sie in Deutschland auf Sky oder Wow gestreamt werden. Der Film beschäftigt sich mit dem medialen Erfolg von Infowars und lässt anklingen, dass Tech-Unternehmen wie Google, Facebook und X, ehemals Twitter, für die virale Verbreitung der zersetzenden Falschberichte eine Mitverantwortung tragen.
Welches Ausmaß Jones’Anschuldigungen und Verleumdungen haben, zeigt Dan Reeds Dokumentarfilm ausführlich, inhaltlich pointiert und mit großer Akribie recherchiert. Vier Jahre lang arbeitete der Regisseur daran, der sich zuvor mit seinem Film „Leaving Neverland“ mit den Missbrauchsvorwürfen gegen Michael Jackson beschäftigte.
Im Fokus des neuen Films stehen zwei von Opferfamilien angestrengte Prozesse in den Bundesstaaten Texas und Connecticut, in denen Angehörige auf Unterlassung klagten. Hier zeigt sich in keiner Weise ein geläuterter Jones. Im Gegenteil, noch vor Gericht spinnt er seine kruden Thesen weiter, die seit fast zehn Jahren eine Meute an Verschwörer*innen den betroffenen Familien auf den Hals hetzten.
1,5 Milliarden US-Dollar Entschädigung muss Jones nun den Klägerfamilien an Schadenersatz zahlen. Bis heute hat Jones, dessen Unternehmen Infowars Konkurs angemeldet hat, von der Schadenssumme nichts zurückgezahlt. Zwar hat ein US-Gericht jetzt die Liquidation seines Vermögens verfügt, doch Infowars sendet wie gehabt weiter und verbreitet im US-Wahlkampf Mythen zu satanischen Verschwörungen, an denen die Demokraten, zuvorderst Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris, beteiligt sein soll. Auch an Spekulationen rund um den Attentatsversuch gegen Ex-Präsident Trump im Juli 2024 beteiligt sich das Verschwörungsportal.
Die große Stärke von Dan Reeds sehenswerter Doku zeigt sich, wenn sie das schreckliche Charisma der Medienfigur Alex Jones zu ergründen sucht, der sich während der Prozesse als Opfer einer Hexenjagd inszeniert. Man kann als Zuschauer bei der Show, die Jones abzieht, nicht wegsehen, so sehr sie einen auch anekeln mag.
„The Truth vs. Alex Jones“ bei Sky und Wow
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