Gipsy Village auf der Travemünder Woche: Die Sache mit den Stereotypen

Ist ein Gipsy Village auf der Travemünder Woche problematisch? Sinti- und Roma-Organisationen sind sich uneins über den Umgang mit Stereotypen.

Ein blaues Zelt mit gelben Sternen und der Aufschrift "Wahrsagerin - Lebensberatung mit Herz" auf der Travemünder Woche. Im Hintergrund ein Hochhaus und ein Riesenrad, im Vordergrund Passant*innen.

So, wie man es sich vorstellt: Zelt einer Wahrsagerin auf der Travemünder Woche Foto: Mika Backhaus

TRAVEMÜNDE taz | Bestes Wetter an diesem Mittwochabend auf der Travemünder Woche – Sonne und eine typische Brise. Die Menschen schieben sich über die Strand- und Hafenpromenade. Viele Essensstände und Zelte mit Kleidung säumen den Weg. Es riecht nach Holzkohlegrill. Der Song „Bailando“ dröhnt aus den Boxen. Im Hintergrund zieht ein Monster von einer Fähre aus Skandinavien Richtung Hafen.

Teil des Programms ist auch ein sogenanntes Gipsy Village, das zusammen mit der Strandpromenade wie folgt beworben wird: Neben „südländischer Atmosphäre und ganz viel Lebensfreude“ können sich BesucherInnen auf „exotische indische Kost“ sowie Musik von Flamenco bis Jazz freuen, und „beim Wahrsagen kannst Du einen Blick in die Zukunft werfen“. Der Begriff Gipsy, das Wahrsagen als stereotype Zuschreibung sowie die benutzte Sprache in der Ankündigung rufen sehr unterschiedliche Reaktionen hervor.

Gipsy ist die englische Bezeichnung für Roma und das in der deutschen Sprache diskriminierende Wort Zigeuner. Die in Deutschland als nationale Minderheit anerkannten Sinti und Roma werden seit Jahrhunderten unterdrückt und ausgegrenzt. Sie wurden durch die Nationalsozialisten systematisch entrechtet und verfolgt.

Unter Antiziganismus wird die pauschalisierende Abwertung als fremd, nomadisch, müßiggängerisch, musikalisch und frei, primitiv, archaisch, kulturlos oder kriminell und modernisierungsresistent verstanden. Auch die Wahrsagerei verbinden viele mit Sinti und Roma.

Laubinger findet Begriff unangebracht

Welche Konnotation diese Stereotype und der mittlerweile auch in der deutschen Sprache gängige Begriff Gipsy haben und ob sie verwendet werden sollen, darüber ist sich die nationale Minderheit der Sinti und Roma in Deutschland uneins.

Kelly Laubinger von der Sinti-Union Schleswig Holstein findet den Begriff unangebracht: „Wir lehnen die wissenschaftlich erwiesene rassistische Fremdbezeichnung in all ihren Variationen entschieden ab.“ Die Community leide seit Jahrhunderten unter dieser Bezeichnung, die ihr von der Mehrheitsgesellschaft auferlegt worden und in ihrer Sprache noch nicht einmal existent sei.

„Die große Mehrheit der Sinti und Roma in Deutschland beansprucht diese Fremdbezeichnungen nicht für sich selbst und dennoch entscheiden Betroffene am Ende des Tages selbst, wie sie genannt werden möchten“, sagt Laubinger.

Rolf-Ulrich Schlotter vom schleswig holsteinischen Landesverband Deutscher Sinti und Roma vertritt eine andere Einschätzung: Sprache sei zwar nicht unwichtig. Das Z-Wort verwende der Verband deshalb nicht mehr. „Die jüngeren Leute wollen die Fremdzuschreibungen nicht mehr hinnehmen und das ist auch gut so“, findet Schlotter.

Die Besucher der Travemünder Woche scheinen sich an dem Begriff nicht zu stören

Seiner Meinung nach ist das eine Generationenfrage. Aber man solle die Debatte um den Begriff auch nicht so groß machen. „Wir haben deutlich größere Probleme“, sagt Schlotter. Er weist daraufhin, dass das Gipsy Village in Travemünde von Menschen aus der Minderheit selbst gewollt sei und im Zweifel auch einfach Geld für diese bedeute.

Das bestätigt auch der Pressesprecher der Travemünder Woche, Ralf Abratis. Er ist seit 14 Jahren dabei. So lange gebe es auch schon das Gipsy Village – ein Anliegen der Familie Rosenberg, die selbst zur Minderheit gehört. Aufgrund eines Schreibens, das den Namen des „Dorfes“ kritisiert, hätten sich die Organisatoren in diesem Jahr im Vorfeld deutlich intensiver mit dem Thema auseinandergesetzt, das aber schon immer sensibel behandelt worden sei.

Die Veranstalter hätten mit der Stabstelle Integration der Stadt Lübeck sowie dem schleswig-holsteinischen Sozialministerium über den Namen gesprochen. Außerdem liegt der taz ein Schreiben an die Stadt Lübeck vor, in der die Betreiber des Gipsy Village, unter anderem Mitglieder der Familie Rosenberg, bestätigen, dass sie den Namen bewusst beibehalten wollen.

Für Stefan Rosenberg und dessen Familie sei der Begriff nicht negativ besetzt. Der Begriff stehe „für seine tief empfundene eigene Identität und ein einzigartiges Gemeinschaftsgefühl“, er sei „ein Ausdruck des Stolzes auf die eigene Kultur und Herkunft“.

Nicht nur in Travemünde

Auch andere Veranstaltungen wie die Elbinsel Gipsy Night 2022 im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg wurden unter Nutzung des Begriffs angekündigt, mit dabei: das Café Royal Salonorchester, ein Ensemble der Sinti-Familie Weiss aus Hamburg.

Die Besucher der Travemünder Woche scheinen sich an dem Begriff jedenfalls nicht zu stören. „Die nennen sich doch selber so“, sagt ein älterer Herr, der gerade zwei Becher neues Bier an den Tisch gebracht hat, an denen sich zwei Paare niedergelassen haben, um gleich der Musik aus dem Gipsy-Zelt zuzuhören. Die drei anderen stimmen nickend zu. Am Zelt der Wahrsagerei wirbt „Röslein Rosenberg“ sogar mit „Zigeuner Handlesen“. Über fehlende Kundschaft kann sie sich nicht beklagen.

Die Flamenco Night fällt an dem Abend leider aus, wie uns kurz später mitgeteilt wird, „aber morgen gibt es wieder Jazz“, beim Gipsy Village.

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