Wählen im Alter: Gisela findet die AfD nicht schlimm
Was tun, wenn alte Bekannte auf einmal einem selbst verhasste Parteien wählen? Unsere Kolumnistin versucht cool zu bleiben.
![Eine faltige Hand wirft einen Brief in eine graue Urne ein. Im Hintergrund sitzt eine Person. Eine faltige Hand wirft einen Brief in eine graue Urne ein. Im Hintergrund sitzt eine Person.](/picture/7130959/624/35854937-1.jpeg)
Stimmabgabe: Früher war was linkes angekreuzt, und heute? Foto:
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Früher hatte ich eine schlichte Theorie zur Frage: Wer wählt was im Alter? Aber als ich neulich mit Jugendfreundin Gisela beim Italiener saß, dämmerte mir: Es ist doch nicht so einfach. Meine alte Theorie ging so: Wer in seinem Leben viel Erfolg hatte und viel Geld verdiente, wählt dann nicht mehr links. Und umgekehrt.
Mein Bekannter L. zum Beispiel, 69, Chef einer großen Dienstleistungsfirma, lief früher auf Hausbesetzer- und Antikriegsdemos mit, eine aufgeschnittene Zitrone gegen das Tränengas in der Tasche. Heute hält er das Bürgergeld für „maßlos überzogen“ und der Kündigungsschutz behindere jede Personalpolitik. L. wählt CDU, „auch wenn das Flaschen sind“.
K. hingegen, 61, ist mit seiner Kneipe gescheitert, mühsam hält er sich mit einem kleinen Onlinehandel über Wasser. Ein Freund stellt ihn zum Schein in seiner Firma an, damit K. krankenversichert ist. Der Kapitalismus werde immer schlimmer, klagt K.. Es gehe weltweit nur um die Bereicherung und die Konsumenten merkten gar nicht, wie sie verarscht werden. Er wählt die Linkspartei.
Ich bin gegen die AfD und BSW. Mehr-fach habe ich schon aggressiv gegen-gehalten bei Gisela
Und was ist mit Gisela? Gisela, 70, hatte Psychologie studiert, war chronisch krank geworden und hatte dann in einer Beratungsstelle Obdachlose unterstützt. Bei Gisela, früher in linken Gruppen aktiv, habe ich einen Wandel beobachtet. 2015 fing es an. Ja, man solle die Syrer zwar unterstützen. Aber für die Obdachlosen hier tue man nichts, „das ist doch nicht in Ordnung“, hatte sie gesagt. Jetzt findet sie es „eine Sauerei“, dass ukrainische Männer im wehrfähigen Alter „hier Bürgergeld beziehen und in SUVs herumfahren“.
„Das hat doch Gründe, dass die AfD so viele Stimmen bekommt“, sagt Gisela, als wir nach der Lasagne beim Espresso angekommen sind, hier beim Italiener in Berlin-Spandau, wo sie in einer günstigen Wohnung mit Gartennutzung lebt. „Ich finde es unmöglich, wie die AfD verteufelt wird“, empört sie sich.
M. wählt schon länger AfD
Giselas Freundin M., 73, Witwe, Esoterikerin, Impfskeptikerin, Katzenfreundin und arabische-Männer-Hasserin, wählt schon länger die AfD. „Vor allem wegen der Migranten“, sagte M. mal, als wir uns zu dritt trafen. Unter „Migranten“ versteht sie dabei nicht die zwei Rumänen, die in Schwarzarbeit ihr Badezimmer fliesten. M. kümmert sich um eine kranke Nachbarin, deren Pflegedienst gekündigt hat. „Von solchen Leuten redet kein Mensch, die können verrotten“, empörte sich M., kaltherzig ist sie nicht.
Gisela findet einige der AfD-Vorschläge gut, wählt die AfD aber nicht, „die Nazis in der Partei stören mich“, sagt sie. Sie ist für das Bündnis Sahra Wagenknecht. „Die Ukraine kann den Krieg nicht gewinnen. Nur gibt das keiner zu. Und die Geflüchteten sind nun mal ein Problem,“ meint Gisela.
Ich bin gegen die AfD und gegen das nationalistische BSW. Mehrfach habe ich schon aggressiv gegengehalten bei Gisela und mich dabei wie eine unfreiwillige Mitspielerin in einem Theaterstück gefühlt, in dem für mich nur eine sehr erwartbare Rolle übrig ist. Deswegen bleibe ich diesmal cool.
„Guck’ dir mal die Videos von Wagenknecht auf Tiktok an“, sage ich, „ein bisschen Dummenfang, aber geschickt. Fast könnte man drauf reinfallen. Aber nur fast“. „Ich wähle demnächst wie immer die SPD oder die Grünen“, setze ich nach, „ist auch ein Protest gegen AfD und das BSW mit ihren Millionenklicks“. Protest, das fand Gisela früher doch immer gut.
Leser*innenkommentare
Axel Berger
Ich bin überrascht, positiv überrascht, daß Frau Dribbusch ihren aggressiven Tonfall selbst erkennt und anspricht. Früher war das nicht so. Zwei sehr alte Freunde, ein strenger Katholik und ein Atheist, reden noch immer gern über Religion und noch immer mit großem gegenseitigem Respekt. Bei anderen Themen ist das nicht so.
Vor einiger Zeit brachte ein älterer, gut bürgerlicher und gebildeter entfernter Bekannter von sich aus das Thema Trump auf. Ich vermeide es und sage, solange ich nicht direkt gefragt werde, in der Regel nichts dazu. Aus ihm, einem generell sehr ruhigen und höflichen Mann, sprudelte übergangslos ungehemmte Aggression und ein Tonfall haßerfüllten Vernichtungswillens. Mir macht das Angst, es kostete mich Beherrschung, nicht aufzustehen und wegzugehen. Und ja, ich beobachte so etwas nur von linker Seite, nie von rechts oder konservativ.
Was ist denn da mit "gegen Haß und Hetze" und mit "aus Worten werden Taten"? Fehlt denen auf der "wir sind mehr" Seite wirklich jede Selbsterkenntnis und Selbstbeobachtung so völlig? Wie gesagt, Frau Dribbusch überrascht mich und überrascht mich sehr positiv. Danke dafür.
Janix
Ich musste auch mal eine mögliche ADi-Wählerin zumindest auf BSW hinweisen. Das war nach Abfrage der für sie wichtigen Punkte: Migrationsbeschränkung und weniger Leistungen auch beim Bürgergeld, aber grundsätzlich eigentlich sozial.
Diejenige war familiär eine traditionelle SPD-Wählerin, dabei hochintelligent, summa cum laude, fleißig, selbstlos, aber aus bestimmten Erfahrungen geschöpft heraus war das ihr aktueller Punkt.
Natürlich kann man dann anführen, dass ständig Einwanderergruppen in die Bundesrepublik kamen, von den Ostgebieten, Ostdeutschland, Balkan, Türkei, Russland, ... und irgendwann war's dann auch gut. Dass ohne das die Industrie nicht mehr da wäre und dass Menschlichkeit ohnehin weniger nach Nützlichkeit sortieren will. Dass laut Daten einige Bonzen das Geld abzocken, nicht die paar Sozialgeld-Filous. Dass ich mich aber gerne auch über die mit aufrege,
Akzeptiert, dass mein erwachsenes Gegenüber aber eine bestimmte Wahlentscheidung hat, habe ich dabei. Ehrlich kam bei mir als Rat BSW heraus, die ich wegen des seltsamen National-Twists selbst kaum schätze.
Fazit: ernst nehmen, Argumente bringen und hoffen. Im Kontakt bleiben.
Kinds Kopp
Danke für den tollen Artikel!
Ich würde mir viel mehr solcher Artikel wünschen, in denen man MIT Afd-Wählern redet statt über sie.
Dr. McSchreck
Wichtig an dem Artikel finde ich, dass man klar wird, warum Leute diese Parteien wählen und dass es real erlebte Gefühle der Ungerechtigkeit sind, die man durchaus nachvollziehen kann, je nach Gerechtigkeitsbegriff.
sollndas
"...ein bisschen Dummenfang, aber geschickt."
Zu unspezifisches Argument. Dummenfang ist ein Merkmal so ziemlich aller mir bekannten Parteien...