Reporter Dündar und Türfent über Türkei: „Mein Heimweh ist riesig“

Nedim Türfent saß in der Türkei im Knast, Can Dündar floh ins Exil. Im Interview sprechen die Journalisten über ihre Heimat – und über Julian Assange.

Can Dündar und Nelim Türfent sitzen auf einer Bühne

Nelim Türfent und Can Dündar beim Gespräch zu Gast bei der taz in Berlin Foto: taz

wochentaz: Julian Assange wurde aus einem britischen Gefängnis entlassen, hat einen Deal mit den Vereinigten Staaten geschlossen und ist in seine Heimat Australien zurückgekehrt. Was denken Sie über diese Entwicklung?

Can Dündar: Ich habe vor ein paar Tagen meine Fernsehdokumentation über Julian Assange fertiggestellt, die in einer Woche ausgestrahlt werden soll. Natürlich ist es sehr erfreulich, dass er freigelassen wurde, aber im Gegenzug musste er einen sehr hohen Preis zahlen, indem er sich schuldig bekannte, geheime US-Dokumente veröffentlicht zu haben. Es ist auch keine so positive Entwicklung in Bezug auf die Pressefreiheit.

war über sechs Jahre in der Türkei im Gefängnis, nachdem er über die Misshandlung kurdischer Bauarbeiter durch die Polizei berichtete. Die kurdische Nachrichtenagentur Dicle Haber Ajansı, für die er gearbeitet hatte, wurde 2016 verboten.

Inwiefern? Als Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet konnten Sie rechtzeitig aus der Türkei fliehen, um einer jahrelangen Haftstrafe zu entgehen.

Can Dündar: Mein Fall in der Türkei und der von Julian haben viele Gemeinsamkeiten. Er hat über US-Kriegsverbrechen berichtet, ich wurde vor Gericht gestellt, inhaftiert und bewaffnet angegriffen, weil ich über illegale Waffenlieferungen des türkischen Staates nach Syrien berichtet habe. Aber wir haben auch viel Solidarität erfahren.

Nedim Türfent: Ich bin auch erleichtert, dass Julian Assange wieder frei ist. Er wird sich erst daran gewöhnen müssen, dass er nicht nur Wände sieht, wenn er aus dem Fenster schaut. Mir ging es genauso, aber ich wusste immer, dass es Menschen in der Türkei und in vielen anderen Ländern der Welt gibt, die mein Schicksal verfolgen, sodass ich mich nicht allein fühlte. Zuerst warfen mir die Wärter in meinem Gefängnis die Briefe vor die Füße. Dann merkten sie, dass immer mehr Briefe kamen – dann mussten sie sich überlegen, wie sie mit mir umgehen.

Can Dündar: Julian Assange war nicht der erste Fall von Kriminalisierung von Journalisten. Aber er war der erste Verleger, der in den USA nach dem Espionage Act strafrechtlich verfolgt wurde. Das hatte einen wichtigen Ansteckungseffekt. Journalisten trauen sich nicht mehr, über so sensible Themen wie Geheimdienst- oder Kriegsverbrechen zu berichten. Leider ist die Situation in den Medien in der Türkei die gleiche.

ebenfalls Journalist, konnte nur durch Flucht nach Deutschland einer mehrjährigen Gefängnisstrafe entgehen. Seine Arbeit für die überregionale Tageszeitung Cumhuriyet, insbesondere seine Berichte über die Machenschaften der türkischen Miliz, ließen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan persönlich Strafanzeige gegen ihn stellen.

Nedim Türfent: Investigativer Journalismus ist heute nur noch in risikoreicheren Gewässern möglich. Was Assange als Teil des Deals akzeptieren muss, ist mit Risiken und Gefahren behaftet. Böswillige Staatsanwälte und Richter könnten dieses Urteil als Präzedenzfall für andere Fälle nutzen. Der Ausgang dieses Falles ist also ein sehr schlechter Präzedenzfall für den investigativen Journalismus. Noch schlimmer würde es werden, wenn Donald Trump Präsident der USA werden sollte. Wie Sie wissen, definiert er sich selbst als Feind der freien Presse.

Herr Türfent, wie kam es zu Ihrer Verhaftung und Verurteilung?

Nedim Türfent: Ich komme aus Hakkari in der kurdischen Region der Türkei, an der Grenze zum Irak und zum Iran, im äußersten Osten. Es war eine Zeit politischer Unruhen und bewaffneter Zusammenstöße zwischen kurdischen und türkischen Kräften. Und dann hörte ich davon, wie kurdische Bauarbeiter bei einer Razzia von der Polizei schikaniert, misshandelt und gedemütigt wurden. Ich begann zu recherchieren und sammelte Augenzeugenberichte. Dann sah ich die Aufnahmen der Körperkamera eines Polizisten und machte sie öffentlich. Das wurde in der ganzen Türkei bekannt.

Hatte das berufliche Konsequenzen für Sie?

Nedim Türfent: Ich wusste, dass es jetzt gefährlich werden würde. Als ich Morddrohungen von der türkischen Polizei erhielt, stellte mich meine Mutter eines Tages zur Rede und sagte: „Mein Sohn, geh wenigstens abends nicht raus, um die Nachrichten zu verfolgen“. Und ich antwortete meiner Mutter: „Das ist genau das, was sie anstreben. Aber wir Journalisten müssen die Abende erhellen, gewissermaßen die Dunkelheit.“ Ich sagte ihr, dass es genau das sei, was sie wollten: Dass man ihrer Einschüchterung nachgibt. Das konnte ich nicht tun.

Can Dündar: Es gibt immer weniger Journalisten wie Nedim, die nicht kapitulieren, die nicht aufgeben. Die Türkei ist ein Gefängnis für Journalisten, so viele Journalisten sind im Gefängnis.

Nedim Türfent: Nachdem ich mit einem Video über die Polizeifolter an kurdischen Bauarbeitern berichtet hatte, sagte mir ein Polizist auf der Straße: „Wenn du weiter berichtest, wird es nicht gut für dich sein.“ Die Polizei begann, mich systematisch ins Visier zu nehmen. Die Polizei bedrohte mich mit dem Tod, indem sie Fotos von Menschen, die sie bei Zusammenstößen getötet hatten, auf ihren Social-Media-Accounts teilte und sagte: „Nedim, wir schauen uns jede Leiche und jeden toten Körper an, um zu sehen, ob du es bist!“ In der Tat war diese Nachricht für mich wie die Büchse der Pandora. Nach dieser Nachricht wurde ich mit Stalking, Schikanen, Drohungen und Gefängnisaufenthalten verfolgt.

Can Dündar: Stellen Sie sich vor: Sie riskieren Ihr Leben, Ihre Familie, Ihre Freiheit im Namen des Journalismus. Ich frage meine deutschen Kollegen oft, ob sie das Risiko eingehen würden, über eine riskante Geschichte zu berichten, wenn sie wüssten, dass die Polizei morgens an ihre Tür klopft, sie auf unbestimmte Zeit inhaftiert, vielleicht sogar foltert… Leider ist es in einigen Ländern notwendig, solche Risiken einzugehen, um sicherzustellen, dass die Öffentlichkeit die Wahrheit erfährt. Pressefreiheit und Demokratie können nicht verteidigt werden, ohne einen Preis zu zahlen.

Nedim Türfent, w urden Sie auch misshandelt?

Nedim Türfent: Die Polizisten haben mich mit dem Gesicht nach unten mitten auf den Asphalt gelegt. Einer hat mir die Hände auf dem Rücken gefesselt und angefangen, mich zu schlagen. Ein Polizist stieg sogar auf meinen Rücken und fing an, auf mir herumzutrampeln. Meine Familie und meine Anwälte setzten sich sofort mit der Staatsanwaltschaft und der Polizei in Verbindung. Sie sagten: „Wir haben Nedim nicht verhaftet, wir wissen nichts davon.“ Meine Kollegen und Rechtsorganisationen starteten eine Kampagne für mich in den sozialen Medien. In der Zwischenzeit brachte mich die Polizei auf den Gipfel eines Berges. Einige Polizisten eröffneten das Feuer in die Luft und fingen an, sich zu streiten, ob sie mich töten sollten oder nicht. Dann klingelte bei einem von ihnen das Telefon und sie hörten auf, mich zu töten. Die Unterstützungskampagne hat mich am Leben erhalten und ich wurde verhaftet.

Sie haben fast zwei Jahre in Isolationshaft verbracht …

Nedim Türfent: Ja, ich wurde unter strenger Isolation gehalten. Denn auch im Gefängnis habe ich, wie viele andere, meine Feder nicht aufgegeben. Und weil sie mich nicht davon abbringen konnten, haben sie mich in Isolationshaft gesteckt. Sie wollten mich daran hindern, die Geschichten anderer Gefangener zu schreiben. Als ich in Einzelhaft war, habe ich diesmal angefangen, Gedichte zu schreiben. Wie John Berger sagt: „Alles, was du im Gefängnis hast, sind Worte“. Und ich denke, kein Mensch kann ohne Worte leben.

Vielleicht habe ich ein bisschen naiv gefragt, aber ist nicht alles düster?

Can Dündar: Ja, so kann man es sehen. Aber diese Düsternis beflügelt unsere Kreativität. Hier ist ein konkretes Beispiel: Das Buch von Nedim…

„Jenseits der Mauern. „Gedichte und Texte eines Journalisten im Gefängnis“, das Texte enthält, die Nedim für taz.gazet geschrieben hat …

Can Dündar: … in einem freien Lebens- und Arbeitsumfeld hätte es diese Gedichte vielleicht nie gegeben. Dieser Druck hat einen Dichter geschaffen. In der Türkei gibt es eine Art von Literatur, die „Gefängnisliteratur“ genannt wird. Die Gefängnisse beherbergen auch die größten Bibliotheken des Landes, das ist das Vermächtnis der dort Inhaftierten… Es gab eine Geschichte, die in dem Gefängnis, in dem ich war, oft erzählt wurde: Eines Tages fragte ein Gefangener nach einem Buch; der Bibliothekar sagte: „Das Buch haben wir nicht, aber der Autor ist hier“.

… das ist Humor, nicht wahr?

Can Dündar: Ja, es ist Humor… Aber es ist auch eine Form des Widerstands: Ja, die Botschaft „alles ist düster, der Druck ist groß, aber wir sind stärker als sie“. Als ich im Gefängnis saß, haben meine Redaktionskollegen unser tägliches Treffen außerhalb meines Gefängnisses organisiert und damit eine Botschaft in die Welt geschickt, dass es einen Redakteur im Gefängnis gibt.

Wir treffen uns hier in Berlin. Herr Dündar, Sie leben in Berlin im Exil, Herr Türfent, Sie waren in Leipzig und sind jetzt mit einem Stipendium in Gießen, aber Sie werden vielleicht in die Türkei zurückkehren. Wie geht es für Sie weiter?

Can Dündar: Jeden Morgen, wenn ich aufwache, frage ich mich, ob heute der Tag ist, an dem ich zurückkehre. Die Sozialdemokraten sind bei der letzten Wahl in der Türkei stärkste Partei geworden… Man kann nie wissen. Als die Mauer in Deutschland fiel, hat das auch niemand erwartet, aber es ist passiert!

Nedim Türfent: Nach dem Gefängnis habe ich meinen Stift wieder in die Hand genommen und meinen Journalismus fortgesetzt. Aber jedes Mal, wenn ich nachts den Kopf auf das Kissen legte, hatte ich Angst, dass die Polizei morgens die Tür aufbricht. Als ich vor einigen Monaten nach Leipzig kam, fühlte ich mich durch die Angst vor der Polizei ganz anders. Ich werde wieder hinfahren, wahrscheinlich nach Hakkari, in meine Heimatstadt. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird, aber ich kann nicht wie ein Vogel Strauß den Kopf in den Sand stecken, während all diese Gräueltaten geschehen. Denn wenn auch die Journalisten und Schriftsteller den Mund halten, wird es morgen und übermorgen niemanden mehr geben, der den Mund hält. Deshalb ziehe ich es vor, Risiken einzugehen.

Haben Sie ein bisschen Heimweh?

Can Dündar: Natürlich… Ich vermisse meine Heimat, meine Familie, meine Freunde, die Kultur meines Landes. Mein Heimweh ist nicht klein, es ist riesig.

Nedim Türfent: Es gibt ein türkisches Sprichwort: Wenn man eine Nachtigall in einen goldenen Käfig steckt, wird sie singen: Bitte nimm mich in meinem Heimatland auf. Ich möchte meinem Land helfen, wieder ein schöneres Land zu werden.

Dem Gespräch ging ein taz Talk, in Kooperation mit Amnesty International, in der taz-Kantine voraus. Das Gespräch mit beiden ist eine erweiterte und redaktionell gekürzte Fassung. Übersetzung aus dem Türkischen beim taz Talk: Melek Korkmaz, Hamburg.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.