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Ausstellung von Sung Tieu in SiegenMinimalistisch und rätselhaft

Künstlerin Sung Tieu wird für ihr sprödes Werk gefeiert. Ganz neu mit dabei: Die Schau „Without Full Disclosure“ im Museum für Gegenwartskunst.

Wie Fracking-Gas in die Wohnzimmer gerät: Ausstellungsansicht Sung Tieu „Ohne Offenlegung“ im MGK Siegen, 2024 Foto: Philipp Ottendörfer; Courtesy Courtesy die Künstlerin, Emalin, London, Sfeir-Semler, Hamburg/Beirut und Trautwein Herleth, Berlin

Wie weist man einen unsichtbaren Angriff nach? Nachdem 2016 mehrere CIA-Mitarbeiter in Havanna unter verschiedenen Symptomen wie Übelkeit, Müdigkeit und Gedächtnisverlust litten, wurde für dieses Krankheitsbild der Name Havanna-Syndrom gefunden.

Die These ist, dass diese Erkrankungen durch eine Art Klangwaffe verursacht wurden. Weitere Fälle wurden bekannt, über die Urheber dieser akustischen Angriffe wird noch immer spekuliert.

Für Sung Tieu ist das diffuse wie politisch aufgeladene Havanna-Syndrom ein gutes Beispiel dafür, wie fluide Wahrheiten sein können. Die 1987 in Vietnam geborene und nun in Berlin lebende Künstlerin forscht zu derartigen Fällen, ihrer Beweisführung und ihrer Instrumentalisierung in Politik und Medien. Dabei hat sie in den letzten Jahren eine markante, künstlerische Handschrift entwickelt.

Markant, weil diese so minimal wie raumgreifend, ästhetisch reduziert wie inhaltsgeladen ist. Häufig tauchen in Tieus Kunst Originalobjekte auf, wie bei „Offerings“ – einem Altar mit Produkten, die in der DDR unter Mithilfe vietnamesischer Ver­trags­ar­bei­te­r:in­nen hergestellt wurden.

Sitzgelegenheit aus Edelstahl

Sung Lieu Ausstellung

„Without Full Disclosure“ („Ohne Offenlegung“): Sung Tieu, Museum für Gegenwartskunst Siegen, bis 10. November 2024, Katalog (1.000 Seiten!): 44 Euro.

Oder sie zeigt Gegenstände – digitale Uhren, eine Sitzgelegenheit aus Edelstahl – die so exakt angefertigt sind wie ein Industrieprodukt. Oft kommt dann dokumentarisches Material dazu wie Zeitungsausschnitte, der Übergang vom Dokument zum Kunstwerk ist bei ihr mitunter fließend.

Trotz minimalistischer Formsprache kann Tieu auch groß. Derzeit bespielt sie die elf Räume im Siegener Museum für Gegenwartskunst. Mehrere Meter lange Stahlrohre breiten sich dann dort wie eine zerstückelte Pipeline auf dem Boden aus. Ihre manchmal spröde und kühl wirkende Kunst ist nicht immer lesbar, die dahinter liegenden Recherchen ohne textliche Fütterung nicht zu erkennen. Tieu will diese Rätselhaftigkeit auch: „Ich möchte nicht, dass die Recherche auf allzu lineare Weise in die Ausstellung einfließt, einfach, weil ich nicht glaube, dass irgendetwas so geradlinig ist“, kommentierte sie einmal ihre Arbeit.

So lässt sich auch der Titel der Siegener Schau „Ohne Offenlegung“ besser verstehen: „Mir geht es nicht um richtig oder falsch, sondern darum, Ambivalenzen in den Raum zu stellen“, sagt sie im taz-Gespräch. Und diese Ambivalenzen produziert Sung, indem sie Ereignisse wie diejenigen um das dubiose Havanna-Syndrom auf einer affektiven Ebene nachvollziehbar macht.

Fiepende Geräusche

Dann setzt sie etwa unangenehme, fiepende Geräusche ein, die Assoziationen an akustische Gewalt eröffnen. Oder sie nimmt Geschehnisse aus der mulmig stimmenden Perspektive einer Überwachungskamera auf, wie in ihrer Videoarbeit „Moving Target Shadow Detection“.

Die Siegener Ausstellung führt mehrere Stränge zusammen, der die Künstlerin in den letzten Jahren gefolgt ist. Schon 2017 ging es ihr im Video „No Gods, No Masters“ um akustische Formen der Kriegsführung. Die US-Armee hatte derartige psychologische Waffen im Vietnamkrieg gegen die Vietcong entwickelt.

Kuba und Vietnam waren Bruderländer der DDR. Tieus Vater kam 1989 als vietnamesischer Vertragsarbeiter in das realsozialistische Land, arbeitete in einem Stahlwerk im sächsischen Freital. Tieu folgte ihm 1992 in das wiedervereinigte Deutschland und lebte mehrere Jahre in einer Ostberliner Vertragsarbeiter:innensiedlung. Es waren die Baseballschlägerjahre, für sie verbunden mit einem unsicherem Aufenthaltsstatus und rassistischen Übergriffen.

Künstlerische Kritik an Fracking

Trotz derart prekärer Bedingungen schaffte es Tieu an Kunsthochschulen in Hamburg und London. Seit ein paar Jahren lebt sie wieder in Berlin, wo sie sich auf eine biografische Spurensuche begab. Sie kehrte etwa in den Ostberliner Plattenbau ihrer Kindheit zurück und porträtierte das mittlerweile zum Abriss freigegebene Bauwerk mit historischem und zeitgenössischem Bildmaterial in einem Video. Das war kürzlich in der Berliner Ausstellung „Echos der Bruderländer“ im HKW zu sehen.

Wird gerade mit Kunstpreisen überschüttet und will bessere Arbeitsbedingungen für ihre Kolleg:innen: Sung Tieu Foto: Nadine Fraczkowski

In Siegen beschäftigt sie sich auch mit Ökologie, nämlich mit den Risiken des Hydraulic Fracturing (Fracking). Dafür reiste sie in die USA und in potenzielle Fracking-Gebiete im Münsterland und beim niedersächsischen Diepholz. „Obwohl das Verfahren in Deutschland verboten ist, wird es immer wieder ins Spiel gebracht und Studienbohrungen durchgeführt“, sagt Tieu.

Künstlerisch überführt sie ihre Kritik an dieser umweltbelastenden Art der Gasgewinnung wieder in ihren typischen Minimalismus. Man hört über eine Soundinstallation tiefe Bodenvibrationen, kriegt ein Gefühl für die Gewalt dieser Eingriffe in die Erde. Und man sieht an der Wand eine Liste der vielen Chemikalien, die nötig sind, um das Gas aus der Tiefe zu bergen.

Tieu ist neben dem fünfjährlich verliehenem Rubensförderpreis aus Siegen, der ihr diese große Ausstellung mit 50 Werken möglich machte, kürzlich auch mit einem Kunstpreis der Schering-Stiftung ausgezeichnet worden, verbunden mit einer baldigen Einzelschau im Berliner KW. Sie ist gerade hierzulande eine der erfolgreichsten Gegenwartskünstlerinnen. Und als solche setzt sie sich auch für bessere Verhältnisse ihrer prekär arbeitenden Künst­ler­kol­le­g:in­nen ein. Denn etwas zieht sie auf vielen Ebenen durch: von der eigenen Biografie Bezüge zum Politischen herzustellen.

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